Konjunktur:Chemieverband warnt vor Deindustrialisierung in Deutschland

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In Leverkusen stellt Lanxess Farbmittel her. Die Geschäfte des Chemiekonzerns laufen schlecht. Der Konzern will ein paar Hundert Stellen abbauen. Damit ist er nicht allein. (Foto: Thorsten Martin/Lanxess)

Die Erholung in der Branche lässt auf sich warten. Viele Firmen haben Sparprogramme aufgelegt und streichen Arbeitsplätze.

Von Elisabeth Dostert, Frankfurt

Eigentlich gefällt sich Wolfgang Große Entrup nicht in der Rolle des Dauer-Nörglers. Sagt er jedenfalls. Der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der chemischen Industrie (VCI) klagt über die Lage der Industrie schon eine Weile. Seine Klage zieht sich mittlerweile über Jahre. Nach der Rezession stecke das Land "mit beiden Füßen im Sumpf der Stagnation", sagt Große Entrup: "Wir leben als Wirtschaftswunderland a.D von der Substanz." Das Wachstum finde woanders statt - in den USA und in Asien.

Der VCI hat in das Frankfurter Literaturhaus eingeladen. Am Eingang hängt noch das Schild mit dem Hinweis auf eine vorangegangene Veranstaltung: Eine Lesung zum neuen Buch von Deniz Ohde. Titel: "Ich stelle mich schlafend". Danach wäre vielleicht auch dem ein oder anderen in dieser Branche und würde dies wohl auch gerne tun: Augen zu, bis das Elend vorbei ist. Das Jahr 2023 lief wegen der weltweit schwachen Nachfrage schlecht für die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie, und es wird nicht besser. 2024 werde die Produktion stagnieren und der Umsatz um 3,5 Prozent sinken, prognostiziert der VCI. "Eine Erholung erwarten wir frühestens für die zweite Jahreshälfte", sagt Große Entrup.

2023 sank die Produktion um fast acht Prozent, allein in der Chemieindustrie um 10,4 Prozent. Einen vergleichbar niedrigen Wert habe es zuletzt vor fast 30 Jahren gegeben: 1995, sagt Große Entrup. Der Umsatz der gesamten Branche sank 2023 um gut zwölf Prozent. Mehr als die Hälfte der Unternehmen hatten Gewinneinbußen bis hin zu Verlusten, ergab eine VCI-Umfrage.

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Das sind aggregierte Daten, die nicht mehr so überraschen, weil einige Konzerne in den vergangenen Wochen Zahlen veröffentlicht haben, die sich schon so lasen: BASF, Bayer, Covestro, Evonik, Lanxess, Wacker Chemie - Umsätze brechen ein, Gewinne auch, manche machen Verlust. Und das sind nur börsennotierte. Der Verband hat rund 1900 Mitglieder, darunter viele Mittelständler und Familienunternehmen. Viele Firmen kündigen Sparprogramme an, wollen Stellen streichen, legen Anlagen still - ganz oder zeitweise, verlagern die Produktion. Der Strukturwandel habe Fahrt aufgenommen, sagt Große Entrup.

Ausländische Firmen investieren weniger in Deutschland

In den vergangenen zwei Jahren sei die Deindustrialisierung eine Drohkulisse gewesen, "jetzt ist sie real", so der VCI-Mann. Er ist nicht der Erste, der in dieser Woche davon redet. "Die Deindustrialisierung in Deutschland schreitet voran", warnte Wacker-Chemie-Vorstandschef Christian Hartel am Dienstag bei der Bilanzpressekonferenz in München. Große Entrup verweist auf eine Studie, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) am Donnerstag veröffentlicht hat, wonach es "erste Symptome" für eine Deindustrialisierung gebe. 2023 haben dem IW zufolge ausländische Unternehmen nur rund 22 Milliarden Euro in Deutschland investiert, so wenig wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Netto-Abflüsse, also die Differenz zwischen Investitionen deutscher Firmen im Ausland und ausländischer in Deutschland, lag bei 94 Milliarden Euro. "Die Politik macht es für Unternehmen alles andere als attraktiv, in Deutschland zu investieren", wird IW-Ökonom Christian Rusche in einer Pressemitteilung zitiert. Die Politik müsse die Investitionsbedingungen drastisch verbessern.

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Die Chemieindustrie ist energieintensiv, deshalb traf sie der Angriff Russlands auf die Ukraine, weil in der Folge die Preise für fossile Rohstoffe wie Erdgas dramatisch anstiegen. Die Industrie braucht sie als Energieträger und Rohstoff für Vorprodukte. Die Produktionskosten in Deutschland seien nicht wettbewerbsfähig, sagt Große Entrup. Bei Gas sei Deutschland zwar besser aufgestellt als vor einem Jahr. Aber insgesamt seien die Kosten für Energie und Rohstoffe nach wie vor um ein Vielfaches höher als zum Beispiel in den USA und China. Da die inländische Nachfrage in der Volksrepublik schwächele und es dort Überkapazitäten gäbe, dränge China vehement auf den Weltmarkt und setze damit vor allem die europäischen und deutschen Hersteller unter Druck.

Große Entrup hadert mit der Politik, weil sie nicht genug tue, um den Standort zu stärken. Er will nicht dauernd nörgeln, aber dann tut er es doch, ausgiebig. Die Vorwürfe sind nicht unbedingt neu: das Bürokratieentlastungsgesetz IV - aus Sicht des Lobbyisten - unzureichend, das abgespeckte "Wachstumschancengesetzchen", die "bröckelnde Infrastruktur", Genehmigungsverfahren, die Jahre dauerten, die fehlenden Fachkräfte, die zu hohen Unternehmensteuern, das Lieferkettengesetz. Das parteipolitische Gezänk auf offener Bühne in der Ampelkoalition. Kompromisse würden gefunden und wieder aufgekündigt. Auch das missfällt Große Entrup. Die Regierung müsse mit ihrer Politik wieder berechenbar werden. Große Entrup kann wirklich gut nörgeln.

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