Ultraläufe:"Man tritt gegen sich selbst an"

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28 Marathon in 31 Tagen lief Susann Lehmann aus Kochel am See. (Foto: Matthias Paintner/oh)

Ein Marathon ist 42,195 Kilometer lang. Ultraläuferinnen wie Susann Lehmann wagen sich auf Distanzen, die noch viel länger sind. Für ihre Dezember-Challenge ist die Kochlerin 1200 Kilometer in 31 Tagen gelaufen.

Interview von Benjamin Engel, Kochel am See

Susann Lehmann aus Kochel am See fällt es offensichtlich schwer, ruhig auf der Couch zu bleiben. Die selbständige Grafik- und Webdesignerin ist Ultraläuferin - und damit auf Distanzen unterwegs, die über die 42,195 Kilometer eines Marathons hinausgehen. Gemeinsam mit Magdalena Kalus wurde die 37-Jährige Dritte in der Teamwertung beim 250 Kilometer langen Eiger Ultra Trail im vergangenen Jahr. Auf dieser Strecke ging es zudem noch knapp 15000 Höhenmeter auf und ab. Zum Jahresabschluss hatte Susann Lehmann dann ihre persönliche Challenge: 28 Marathons in 31 Tagen, vom 6. Dezember bis 5. Januar 2024. Das heißt 124 Stunden laufen, um 1200 Kilometer und 4700 Höhenmeter zurückzulegen. Ein Gespräch mit der Kochlerin über ihre Motivation, Strecke zu machen, und über den Reiz des Durchhaltens.

SZ: Frau Lehmann, der Durchschnittsdeutsche geht im Alltag laut einer Studie der kalifornischen Standford-Universität um die drei Kilometer am Tag. Profisportler treten im Jahr bei zwei, drei Marathons im Wettkampf an. Viele könnten Ihre Challenge für ziemlich verrückt halten, oder?

Susann Lehmann: Das hängt von der Perspektive ab, die du hast. Als ich mit dem Laufen vor zwölf Jahren begonnen habe, waren schon zwei Kilometer für mich eine totale Herausforderung. Inzwischen ist es für mich eigentlich egal, ob ich hundert oder 250 Kilometer laufe.

Das dürfte für viele eher nach Qual als nach Lust klingen. Wie halten Sie denn solche Distanzen durch?

Ich laufe ja schon seit zwölf Jahren. Ich weiß, dass mein Körper sehr gut regenerieren kann. Das habe ich auch nach dem Eiger Ultra Trail gemerkt. Ich habe mir gedacht, dass es ein realistisches Ziel sein kann, solange ich mein Tempo nicht überschreite. Eine gute mentale Strategie ist es, sich die Strecke in einzelne Abschnitte einzuteilen. Ich bin immer eine ähnliche Strecke gelaufen - von Kochel Richtung Benediktbeuern, Bichl, Penzberg bis Sindelsdorf und Iffeldorf, auch über Schlehdorf und Großweil, einmal bis Murnau. Nach Penzberg sind es etwa 1 Stunde 40 Minuten. Dann folgt der nächste Abschnitt.

Sie haben durchschnittlich um die vier Stunden und 20 Minuten für jeden der 28 Marathons gebraucht. Was ist Ihre Motivation dafür, so lange zu laufen?

Das ist eine gute Frage. Bei mir ist es die Neugierde, die Lust, mehr über sich selbst herauszufinden. Man tritt gegen sich selbst an. Wer so lange unterwegs ist, muss sich selbst aushalten können. Ich kenne das Gefühl, wenn etwas schiefgeht. 2022 sind Magdalena Kalus und ich schon einmal den Eiger Ultra Trail gelaufen und haben es nicht geschafft. Oft kommen auf einmal Charakterzüge zum Vorschein, die du gar nicht im Alltag kanntest. Du lernst so viel von dir selbst, was du für das normale Leben mitnehmen kannst.

"Dranbleiben zahlt sich aus"

Was beispielsweise?

Beim Eiger Ultra Trail gab es etwa so eine Situation. Wenn du nachts bei drei Grad und Sturmböen läufst, müde und unterzuckert bist, dann nervt eigentlich nur noch alles. Ich bin richtig wütend geworden und habe gemerkt, dass ich meine Emotionen doch nicht so gut unter Kontrolle habe, wie ich gedacht habe. Aber dranbleiben zahlt sich aus. Es ist ein gutes Gefühl, sich durch solche Phasen durchgeboxt zu haben. Wenn ich Wochen später auf der Couch sitze, denke ich nicht mehr daran, wie schlechte Laune ich da hatte.

Kann es sein, dass das Laufen für Sie so eine Art Suchtcharakter hat? Eine Woche nach der Challenge haben Sie ja bereits wieder Lauffotos auf Ihrer Instagramseite Runskills veröffentlicht.

Laufen ist ein riesengroßer Teil meines Lebens. Mir geht es blendend. Ich habe die 28 Marathons gut weggesteckt. Am Ende hätte ich auch einfach weitermachen können. Da saßen ein Teufel und ein Engel auf meiner Schulter. Der Teufel hat gesagt: Das läuft so gut - warum machst du nicht weiter und schaust, wie lange das so weitergeht? Der Engel hat gesagt: Hör doch auf, die Challenge ist vorbei. Ich habe eine ganz rationale Entscheidung getroffen. Das ist natürlich eine Gratwanderung. Letztendlich muss das jeder für sich selbst wissen. Du würdest das aber nicht packen, wenn du nicht intrinsisch motiviert bist.

"Ich wollte nur noch rennen", sagt Susann Lehmann. Zehn Jahre lang pausierte sie mit dem Ausdauersport, ehe sie wieder mit dem Laufen begann. (Foto: Matthias Paintner/oh)

Was war denn für Sie der Impuls, mit dem Laufen anzufangen?

Ich habe schon als Kind und Jugendliche viel Leichtathletik betrieben. Dann war für zehn Jahre Pause mit dem Ausdauersport. Mit Mitte 20 habe ich dann zehn Stunden im Büro gearbeitet. Ich saß die ganze Zeit auf dem Stuhl. Das hat sich super unbequem angefühlt. Ich habe gemerkt, dass das mir nicht guttut, und einen Ausgleich gesucht. Ich bin dann erst einmal ins Fitnessstudio gegangen. Das Krafttraining hat mir nicht so Bock gemacht. Am liebsten war mir das Laufband. Ich wollte nur noch rennen. Mein Freund Dennis Soisch hat Fußball gespielt. Zum Training sind wir dann auch gemeinsam gelaufen.

Vom Laufband zu Ultra-Trail-Distanzen ist es aber ein weiter Weg. Was raten Sie denn jemandem, der den Sport ausprobieren will?

Wer anfängt, sollte sich erst einmal keine Gedanken zu Geschwindigkeit oder der Distanz machen. Zunächst braucht es ein paar gute Schuhe. Damit du dich wohlfühlst, solltest du zum Kauf in ein Fachgeschäft gehen und dich beraten lassen. Funktionskleidung ist noch ganz gut - und dann rennst du erst einmal los.

"Der größte Fehler ist, zu schnell loszulaufen"

Und mehr braucht es nicht?

Es geht darum zu sehen, wie es sich anfühlt. Es ist keine Schande, auch einmal Gehpausen einzulegen. Der größte Fehler ist, zu schnell loszulaufen. Die Faustformel ist, dass du das richtige Tempo hast, wenn du dich noch normal unterhalten kannst. Das Wichtigste ist, sich realistische Ziele zu setzen. Das können auch nur zehn Minuten sein. Bei niemandem muss das beim Marathon enden.

Bei Ihnen ist es aber sogar noch darüber hinaus gegangen.

Ich habe anfangs gesagt, dass ich nie einen Marathon laufen werde. Das hat sich aber immer weiter entwickelt. 2014 bin ich den ersten Halbmarathon gelaufen, 2015 einen Marathon und 2017 das erste Mal eine Ultra-Trail-Distanz mit 50 Kilometern.

Mit Ihrer Dezember-Challenge haben Sie 2020 angefangen. Es ging damit los, täglich die Kilometerzahl des Kalendertages zu laufen. Im Jahr darauf folgte ein täglicher Halbmarathon, dann 650 Höhenmeter pro Tag. Was kann die jetzige Marathon-Challenge noch toppen?

Ich bin ja keine Profi-Sportlerin. Ich muss mit meiner Zeit haushalten. Bei der Challenge blieb es ja nicht dabei, nur 4;20 Stunden täglich zu laufen. Du musst dich anziehen, aufwärmen, duschen und regenerieren. Das ist inklusive Planung und Organisation so, als ob du Vollzeit arbeitest. Ich bin zum Glück selbständig, habe im Oktober und November viel gearbeitet, um mir die Zeit für Dezember freizuschaufeln. Ich habe zwar nach dem letzten Marathon gesagt, ich könnte ewig so weiterlaufen. Aber ich habe ja noch einen Freund, einen Hund. Für die muss ich mir auch Zeit nehmen.

Wie wäre es mit 31 Marathons an 31 Tagen?

Das war das ursprüngliche Ziel. Dafür hat aber das Wetter nicht mitgespielt. Bei Dauerregen mit Sturmböen wollte selbst ich nicht laufen. Ich will ja nicht mit einer Erkältung im Bett liegen.

Bei Kälte, sagt Susann Lehmann, könne sie viel besser laufen. Ihr Idealwetter: zehn bis zwölf Grad, bedeckter Himmel, keine Sonne, kein Wind. (Foto: Matthias Paintner/oh)

Wettertechnisch war bei Ihrer Challenge ja alles dabei - von Schneemassen Anfang Dezember bis zu langer Trockenphase ganz ohne Weiß im Tal. Was ist denn Ihr Lieblingswetter?

Wenn es stürmt und schneit, vereist ist, zieht dich das natürlich mehr runter, als wenn es 12 Grad, Sonne und blauen Himmel hat. Mein ideales Laufwetter ist zehn bis zwölf Grad, bedeckter Himmel, keine Sonne und kein Wind. Grundsätzlich ist für mich alles gut, was nicht Hitze ist. Bei Kälte kann ich viel besser laufen.

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