Tennis-Überraschung Jan-Lennard Struff:Er kann die neue deutsche Nummer eins werden

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Typisch Jan-Lennard Struff: Ihm gelingt im Halbfinale in Madrid gegen den Russen Aslan Karazew ein einmaliger Sieg - und er verzieht keine Miene. (Foto: Pierre-Philippe Marcou/AFP)

Jan-Lennard Struff verblüfft in Madrid die Tenniswelt und ist auf dem besten Weg, Alexander Zverev in der Weltrangliste zu überholen. Im Finale wartet allerdings der zurzeit schwierigste Gegner.

Von Gerald Kleffmann

Jan Lennard Struff schlug auf, es stand 40:15. Der Ball landete im Feld. Aslan Karazew holte aus und schlug den Ball ins Aus, hinter die Grundlinie. Struff zupfte an seiner Kappe, deren Schirm nach hinten ragte. Er verzog keine Miene, während er ans Netz schritt. Er klopfte Karazew auf die Brust. Das Gesicht immer noch ausdruckslos. Er winkte kurz zwei-, dreimal ins Publikum. Ein Dank für den netten Applaus. Solider Erstrundensieg. So sah das Ganze aus.

Dabei war es das Match seines Lebens. Typisch Struff, werden die Zuarbeiter in seinem Team sicher sagen und alle, die ihn kennen. Struffi nennen ihn viele, was ein bisschen nach Schluffi klingt. Und er ist ja auch etwas schluffig, manchmal. Aber dieser Tage muss man sagen: Er spielt jetzt wie jemand Tennis, der Struff heißt und nicht Struffi.

"Es ist wunderbar. Ich habe mir vorher so was nicht vorgestellt", sagte Struff am Freitagabend nach dem 4:6, 6:3, 6:4-Halbfinalerfolg beim Interview mit dem Reporter der ATP Tour. Er bestreitet nun an diesem Sonntag zum zweiten Mal ein Finale im Einzel, 2021 hatte er in München gegen den Georgier Nikolos Bassilaschwili verloren. Aber das war bei einem Turnier der 250er Kategorie, da geht die ATP-Tour quasi erst los. Madrid gehört zur sogenannten Masters-Serie, neun Events gibt es davon jede Saison, sie werden seit 1990 abgehalten. Sie sind die wichtigsten Veranstaltungen nach den vier Grand-Slam-Turnieren.

Die Geschichte von Struff ist nicht nur deshalb ziemlich gut, weil er den größten Erfolg seiner langen Karriere erzielte. 33 Jahre alt ist er inzwischen, seit 2009 ist er Profi. Sein Weg in dieses Finale war höchst ungewöhnlich und beinhaltet sogar einen Rekord. Noch nie hatte ein Lucky Loser ein Endspiel bei einem Masters erreicht. So werden jene Spieler genannt, die in der letzten Runde des Qualifikationsturniers scheitern, dann doch noch ins Teilnehmerfeld des Hauptturniers rücken, weil überraschend ein Platz frei geworden ist. Zum Beispiel, weil sich jemand verletzte.

Attacke! Jan-Lennard Struff fackelt oft nicht lange - und schlägt mit größtmöglicher Härte auf die Bälle. (Foto: Manu Fernandez/dpa)

Die Geschichte wird sogar noch kurioser. Struff hatte nämlich in besagter letzter Runde bereits gegen Karazew antreten müssen. 4:6, 2:6, ziemlich klar war er vom Platz gefegt worden. Aber in diesem Jahr ist etwas mit Struff passiert, gar nicht einmal so sehr mit seiner Technik, seinen Schlägen. Sein Manager Corrado Tschabuschnig aus Italien, der fließend Deutsch spricht, erklärte das im Interview bei Sky anschaulich: "Er weiß jetzt endlich, dass er mächtig ist", sagte er. "Dass er groß ist auf dem Platz, dass er stark ist. Er empfindet das auch jetzt immer mehr. Er hat sich ab und zu kleingemacht früher, obwohl er immer die Schläge gehabt hat. Aber jetzt merkt man, man kann nicht an ihm vorbeischlagen. Er ist so riesig auf dem Platz."

Entspannt allerdings sieht Struffs Tennis zurzeit nicht aus, und schon gar nicht ist es das für seine Gegner. Mit seinem langjährigen Trainer Carsten Arriens, der mal Davis-Cup-Teamchef war, hat er schon viel an seinem Selbstvertrauen gearbeitet, das manchmal nicht so stark war, wie es sein Spiel sein kann. Aber mit dem früheren Profi Marvin Netuschil aus Hamm, der nun in Madrid als Coach dabei ist und zu Arriens und Struff gestoßen ist, hat Struff noch einmal eine neue Ausstrahlung erlangt.

In Melbourne nahm sich Struff vor einem schweren Match die Furcht und sagte: "Ach was. Den muss ich weghauen!"

Vor oder nach Ballwechseln erinnert er an Skirennfahrer, die auf der Streif in Kitzbühel im Starthaus stehen und sich noch mal heftig Mut zusprechen. Oder wie Boxer, die sich auf die Brust hämmern, um sich wacher zu machen. Struff hebt ständig die Faust, ein Signal an sich selbst. Ich bin da. Ich bin bereit. So spielt er fast schon Punkt für Punkt. Und neu ist, dass da draußen in der Box gerade nicht der ruhige Arriens sitzt. Netuschil ist ganz anderer Natur. Er macht eine fast schon kampfhungrige Miene und brüllt Struff oft etwas zu. Er wirkt wie ein Panther auf der Lauer. Im Tennis ist das kurze Coaching von außen ja nun erlaubt. Struff selbst verwendet oft das Wort "Energie". Die brauche er. Auch Netuschil vermittelt sie ihm.

Struff attackiert, wann immer er kann und eine Chance sieht. Er gibt den Gegnern kaum Zeit zum Atmen. Er steht dicht an der Grundlinie, und weil er 1,93 Meter groß ist und lange Arme hat und sich dieser Tage richtig gut bewegt, deckt er wirklich den ganzen Platz gut ab. Sein Aufschlag ist eine Wucht. Und er ist robust. Er gewann nun fünf Matches hintereinander, jeweils im dritten Satz. Er besiegte in Madrid unter anderem den hochgehandelten jungen Amerikaner Ben Shelton, den soliden Strategen Dusan Lajovic aus Serbien, und im Viertelfinale gelang sein Museumssieg gegen Stefanos Tsitsipas. Der Grieche stand im Januar gerade wieder mal in einem Grand-Slam-Endspiel, in Melbourne.

Bei den Australian Open hatte man die neue Zuversicht von Struff schon gespürt. Nach überstandener Qualifikation traf er auf den starken Amerikaner Tommy Paul. Furcht? "Ach was. Den muss ich weghauen", sagte er damals vorab. Er war bereit, den Kampf anzunehmen, so war das gemeint. Er verlor dann zwar in drei Sätzen. Aber diese Einstellung hat ihn nun in Madrid in sein bislang größtes Finale gebracht. Im Davis Cup war Struff, außerordentlich beliebt bei allen Kollegen, schon mehrmals der deutsche Retter und bewahrte das Team sogar zweimal vor dem Abstieg. Nun ist der Erfolg allein sein Erfolg, und tatsächlich könnte er nun Alexander Zverev als deutsche Nummer eins ablösen. Es fehlt ihm nur ein Sieg. Nummer 28 in der Weltrangliste wird er nun mindestens sein, Zverev liegt noch auf Rang 22.

Definiert das Tennis neu: Der Spanier Carlos Alcaraz fabriziert oft Schläge, die das Publikum zum Staunen bringen. (Foto: Clive Brunskill/Getty)

Doch die Hürde im Endspiel ist nicht gering. Der Spanier Carlos Alcaraz, der die US Open gewann und am Freitag 20 Jahre alt wurde, ist das Maß. Vor allem da Rafael Nadal (sagte auch für das Turnier in Rom ab) und Novak Djokovic (müde) in Madrid fehlten. "Am Sonntag wird es eine tolle Kulisse geben. Vielleicht feuern mich nicht alle an. Aber das ist fein. Ich bin sehr glücklich mit dem Finale", sagte Struff. "Ich konnte ihn ja schon mal schlagen." 2021 war das gewesen, bei den French Open in Paris. Nun weiß er aber auch: "Für einen jungen Spieler wie ihn sind zwei Jahre viel Zeit." Sollte heißen: Alcaraz hat sich noch einmal enorm verbessert.

Aber auch dieser verblüffend transformierte Struff, inzwischen Vater zweier Jungs, hat das. Er ist jetzt der siebte deutsche Mann, der in einem Masters-Finale steht. Zuvor hatten das Boris Becker (22 Mal), Alexander Zverev (10), Michael Stich (3), Tommy Haas (2), Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler (je 1) geschafft. "Es wird eine Party am Sonntag", sagte Tschabuschnig. "Egal, wie es geht, wird er komplett gelassen reingehen. Sein Turnier hat er schon gewonnen."

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