Ein wenig ungläubig starrte Dajana Jastremska auf die untere Ecke des Netzes, in der sich der Ball auf der Gegenseite gefangen hatte. Dann schlug sie die Hände über ihrem Kopf zusammen. Es dauerte einen Moment, bis die Fassungslosigkeit langsam einem zaghaften Lächeln wich: Erstmals in ihrer Karriere steht die 23-Jährige in einem Grand-Slam-Halbfinale - und sie hat dafür drei Matches mehr gebraucht als die Konkurrenz.
Dajana Jastremska aus Odessa hat sich als Qualifikantin in die Vorschlussrunde der Australian Open durchgeschlagen. So etwas passiert selten genug bei einem Grand-Slam-Turnier. Vor zweieinhalb Jahren bei den US Open in New York wurde die Britin Emma Raducanu zuletzt aus dem Nichts in galaktische Höhen katapultiert. In Melbourne liegt ein vergleichbarer Fall allerdings bereits 46 Jahre zurück. 1978 erreichte die Australierin Christine Dorey das Halbfinale ihres Heimatturniers; es war, die Älteren werden sich erinnern, das Jahr, in dem Martina Navratilova den ersten ihrer neun Wimbledon-Titel gewann.
Tennisspielerin Gauff in Melbourne:Berufsziel: Seriensiegerin
Die 19-jährige Coco Gauff, die im vergangenen Sommer die US Open gewann, steht nun auch im Halbfinale der Australian Open. Für die nächste Etappe ihrer Karriere hat sie sich eine neue Strategie zurechtgelegt.
"Damals war ich noch gar nicht geboren", sagte Jastremska völlig richtig, als sie an diese Großtaten aus einem weit zurückliegenden grünen Erdzeitalter des Lawn Tennis erinnert wurde. 1978 wurden die Australian Open noch nicht auf den blauen Hardcourt-Plätzen im Olympiapark im Stadtzentrum ausgetragen, sondern auf Rasen im südlichen Viertel Kooyong.
Der Angriffskrieg Russlands auf ihr Heimatland machte Jastremska und ihre Familie zu Geflüchteten
Acht Matches binnen zweieinhalb Wochen lagen somit hinter Jastremska, als sie am Mittwochnachmittag zum Netz schritt, um ihrer Viertelfinalgegnerin Linda Noskova, der erst 19-jährigen und hochtalentierten Tschechin, nach dem 6:3, 6:4-Sieg die Hand zu reichen. Drei Qualifikationsmatches waren nötig, um überhaupt zugelassen zu werden für die Hauptrunde des größten Tennisturniers der südlichen Hemisphäre. Und Jastremska, die vor vier Jahren schon einmal die Nummer 21 der Welt war, inzwischen aber auf Position 93 abgerutscht ist, hatte im Vorturnier in jedem dieser Duelle über die volle Distanz von drei Sätzen gehen müssen.
"Alle Frauen hier können fantastisch Tennis spielen", sagte sie, deshalb habe sie sich "abgewöhnt, auf das Ranking zu sehen". Und weil sie nach der Qualifikation gerade so gut eingeschwungen war, kegelte sie in ihrem ersten Hauptrundenmatch gleich die Wimbledonsiegerin von 2022, die an Nummer drei gesetzte Kasachin Elena Rybakina, aus dem Turnier. Es war der erste Überraschungscoup der diesjährigen Australian Open; im Achtelfinale ließ Jastremska dann der früheren Weltranglistenersten Wiktoria Asarenka, 34, aus Belarus keine Chance. "Ich hatte das nicht erwartet", sagte sie nun nach dem Halbfinaleinzug: Das Turnier hatte sie ursprünglich nutzen wollen, um sich in den Matches auf Details zu konzentrieren, vor allem im mentalen Bereich.
Dass sie schwierige Phasen zu bewältigen hatte, beruflich wie privat, steht außer Frage. Anfang 2021, nachdem sie bereits drei Titel auf der WTA-Tour gewonnen hatte, wurde Jastremska vom Tennisweltverband vorläufig suspendiert. Die Analyse einer Dopingprobe vom November 2020 wies Spuren von Mesterolon auf, eines synthetischen anabolen Steroids, das auf der Verbotsliste der Welt-Antidoping-Agentur (Wada) steht. Der Fall wurde damals kurz vor den Australian Open bekannt, Jastremska war bereits nach Melbourne gereist.
Sie beteuerte ihre Unschuld, der Sportgerichtshof Cas lehnte ihren Einspruch ab. Aber im Juni 2021 entschied ein Untersuchungsgremium, dass Jastremska keine Schuld oder Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei, und hob die Suspendierung folglich auf. "Ich hatte viele Schwierigkeiten", sagte sie am Mittwoch vage, "aber ich möchte darüber jetzt nicht reden. Vielleicht kann ich es später erklären, und dann wird die Geschichte vielleicht anders klingen."
Jastremska erzählt, dass eine Rakete Anfang Januar das Haus ihrer Großmutter getroffen habe
Fest steht jedenfalls, dass nur acht Monate nach ihrer Rückkehr auf die Tennistour Putins Panzer in die Ukraine rollten. Der Angriffskrieg Russlands auf ihr Heimatland machte Jastremska und ihre Familie zu Geflüchteten. Sie zog zunächst allein mit ihrer Schwester nach Lyon, weil sie dort bei einem Turnier spielte, bei dem sie bis ins Finale einzog - was sie heute noch wundert. "Ich hatte vorher ja gar nicht mehr trainiert", erzählte sie: "Es gab massive Angriffe, und wir hatten an anderes zu denken." Im vergangenen Jahr kam ihre Mutter nach Frankreich nach, die sie jetzt wie früher wieder auf den Tourneereisen begleitet. Die Flucht, sagte sie, habe die Familie enger zusammenwachsen lassen.
Sie ist jetzt die letzte der drei Ukrainerinnen, die sich bei den diesjährigen Australian Open bis ins Achtelfinale gespielt hatten: Die Kollegin Elina Switolina musste im Match gegen Linda Noskova, die vorher die Weltranglistenerste Iga Swiatek geschlagen hatte, wegen einer Verletzung vorzeitig aufgeben. Marta Kostjuk verlor gegen die US-Open-Siegerin Coco Gauff. Jastremska spielt im Halbfinale nun gegen die Chinesin Zheng Qinwen, die die Russin Anna Kalinskaja 6:7 (4), 6:3, 6:1 bezwang.
Vor einigen Tagen erzählte Dajana Jastremska, dass eine Rakete Anfang Januar das Haus ihrer Großmutter in der Ukraine getroffen habe. Bevor sie am Mittwoch den Platz verließ, widmete sie ihren Sieg, wie immer, den Landsleuten. "Ich bin stolz auf unsere Kämpfer in der Ukraine", schrieb sie auf die Linse der Fernsehkamera. Diese Nachrichten seien ihr wichtig, sagte sie: "Ich glaube, das ist meine Mission hier."