Neapels Trainer Luciano Spalletti:Und plötzlich ist es Liebe

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Symphoniker: Napolis Trainer Luciano Spalletti. (Foto: Marco Bertorello/AFP)

Luciano Spalletti ließ schon immer schönen Fußball aufführen, Titel gewann er in Italien nie. Bei Frankfurts Champions-League-Gegner Napoli fügt sich nun alles harmonisch zusammen. Und unter dem Vesuv träumen sie vom Unsagbaren.

Von Oliver Meiler, Rom

Vom Dichter Giovanni Boccaccio zu Luciano Spalletti ist der Sprung natürlich ein weiter, einer über fast sieben Jahrhunderte und ein paar Dutzend Kulturkategorien hinweg. Aber wer mag schon kleinlich sein? Beide kommen aus Certaldo, einer unscheinbaren Stadt zwischen Florenz und Siena: tiefe Toskana, ein bisschen Keramik, bäuerlich. Und beide haben sie in Neapel ihre Liebe gefunden, das kann ja kein Zufall sein. Bei Boccaccio hieß sie Fiammetta, besungen im "Decamerone", seinem wichtigsten Werk. Bei Spalletti ist die Liebe platonisch, aber nicht minder poetisch: die Società Sportiva Calcio Napoli.

Der Fußballtrainer Spalletti ist gerade dabei, sein wichtigstes Werk zu vollenden, sein gelungenstes. Mit 63 Jahren, es hat etwas gedauert. Sein Neapel ist die Quintessenz all seiner Ideen und Ticks. Es führt die italienische Serie A mit 15 Punkten Vorsprung an, in dieser Saison hat es erst ein Mal verloren (im Januar, 0:1 bei Inter). Und in der Champions League, wo Napoli an diesem Dienstag (21 Uhr) nun gegen Eintracht Frankfurt antritt, wird seinem Spiel von prominenten Kollegen gelobhudelt, die davon auch ein bisschen etwas verstehen, von Pep Guardiola und Jürgen Klopp zum Beispiel.

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Erstaunlich aber ist vor allem die Kontinuität ohne jeden Spannungsabfall im fußballerischen Alltag, in der Meisterschaft. 15 Punkte Vorsprung also, nach 23 Spieltagen. So viele hatte im laufenden Jahrhundert noch kein nachmaliger Meister in Italien, nicht einmal Juventus Turin zu dessen bester Zeit.

Applaus hüllt die Seele in Samt. Und auf einmal klingt auch "der Glatzkopf" ganz weich

Wären die Neapolitaner nicht so unheilbar abergläubisch: Das erste Feuerwerk wäre schon gezündet. Seit 33 Jahren, seit Diego Armando Maradona, wartet man auf den scudetto, den Titel.

Neulich sagte Spalletti: "Wir erhalten gerade so viel Liebe, wir müssen alles zurückgeben." L'amore! Auch dieses Säuseln ist neu, sein ganzer Gestus. Früher galt Signor Spalletti als arrogant und professorenhaft. Jetzt braucht er auch oft hübsche Allegorien beim Reden, für die Metaebene. Wahrscheinlich ist es der Erfolg, der Applaus von allen Seiten, er hüllt die Seele bekanntlich in Samt. Früher legte sich der Toskaner nämlich gerne mit allen an, den Journalisten, den Schiedsrichtern, vor allem aber mit den Stars in seinen Teams, den Lieblingen des Volkes - so sehr, dass man sich fragte, ob er vielleicht ein bisschen eifersüchtig sei auf ihre Strahlkraft.

In Rom verscherzte es Spalletti sich einst für immer mit dem Anhang, weil er Francesco Totti, den unverhandelbaren König der Römer (links), in die Frühpension beförderte, wo der doch bis 50 weitergespielt hätte, mindestens. (Foto: Zuma Press/Imago)

Bei Inter Mailand war es der argentinische Stürmer Mauro Icardi, im ersten Jahr bei Neapel dann Lorenzo Insigne, immerhin ein Sohn der Stadt. Und bei der AS Roma, die er insgesamt am längsten trainierte, verscherzte er es sich für immer mit dem Anhang, weil er Francesco Totti, den unverhandelbaren König der Römer, in die Frühpension beförderte, wo der doch bis 50 weitergespielt hätte, mindestens. Ein Sakrileg. Wenn man die Romanisti aber fragt, unter welchem Trainer es in den vergangenen 20 Jahren am meisten Spaß gemacht hat, ins Stadion zu gehen, dann sagen wenigstens die, die luzid geblieben sind: mit dem "pelato", dem Glatzkopf, mit Spalletti. Von 2005 bis 2009 und von 2016 bis 2017. Man war auch nahe dran, Meister zu werden. Aber eben: nur nahe dran. Meister wurde Spalletti bisher nur in Russland, mit Zenit Sankt Petersburg. Aber das ist eine ganz andere Bühne.

Spalletti wohnt im Hotel, früher wurde er dafür kritisiert - jetzt nicht mehr

Seit Sommer 2021 coacht Spalletti nun also Napoli. Im vergangenen Sommer deutete noch nichts darauf hin, dass es mal Liebe werden würde. Er wohnt im Hotel, und wann immer er kann, reist er nach Certaldo, auf seinen geliebten Hof. Als der Präsident des Vereins, der römische Filmproduzent Aurelio De Laurentiis, ihn dafür kritisierte, dass er sich nicht wirklich auf die Stadt einlasse, sagte Spalletti ironisch: "Ich werde mir jetzt einen Wohnwagen kaufen und jeden Monat in ein anderes Viertel von Neapel ziehen, so verpasse ich kein Quartierfest."

Es roch schon nach Scheidung, zumal De Laurentiis einen schönen Teil der Prominenz des Teams verkaufte, um die Salärmasse zu reduzieren. Es kamen Leute, denen man zwar Talent und Zukunft nachsagte, aber wer hatte schon mal vom jungen Georgier Chwitscha Kwarazchelia und vom Südkoreaner Kim Min-jae gehört?

Der Beste trägt momentan Maske, zumindest auf dem Feld: Neapels treffsicherer Stürmer Victor Osimhen (im Vordergrund) erzielt am vergangenen Wochenende das 2:0 gegen Sassuolo. (Foto: Massimo Paolone/dpa)

Doch dann passierte, was niemand für möglich gehalten hätte. Napoli spielte trotz Totalumbau bald so, wie man das von Spallettis Teams kennt: kollektiv, symphonisch und sehr vertikal. Dieser Offensivsog: Er reißt alles in die Spitze, abgesehen von der Abwehr. Dazu erfand der Trainer einige Spieler neu, die in ihren klassischen Rollen bequem geworden waren, etwa die Außenverteidiger Mario Rui und Giovanni Di Lorenzo. Plötzlich tauchten die so dicht hinter den Flügelläufern auf, doppelten diese oder zogen selbst ins Zentrum, dass die Gegner oft nicht wussten, wo ihnen der Kopf stand. "Incursionisti", sagen die Italiener, Einfallspieler. Die Regie überließ er dem Slowaken Stanislav Lobotka, und dieser "Lobo" wurde zum Gravitationszentrum Neapels.

Ganz vorne, nun ja, da hat Spalletti einen, der überall spielen könnte, aber wohl nirgendwo je so gefeiert werden wird in seiner Karriere, die ja erst am Anfang steht, wie in dieser verrückten und verrückt schönen Stadt: Victor Osimhen, aus Lagos, Nigeria, 24 Jahre alt. Wenn der Chor mal nicht mehr kann, dann gehen lange Bälle auf Osimhen, er schnappt die meisten. Und wenn Osimhen ausfällt, spielt eben Giovanni Simeone oder Giacomo Raspadori. Die Spielidee ist immer dieselbe, sie sitzt in allen Köpfen. Selbst die Stars führen sich nicht wie Stars auf, und so gibt es auch keine Reibungen mit dem Trainer.

Die Statue Maradonas in der Umkleide steht da für den mystischen Moment

Spalletti, so hört man, führt Notizhefte über seine Spieler, alles notiere er darin: jeden Gefühlsausbruch, jede Verletzung, auch kleinste Anekdoten. Am Spielfeldrand dagegen sieht man ihn nie schreiben. Da steht er jeweils im Trainingsanzug, mit weit aufgerissenen Augen, immer einen Ticken zu dramatisch und missionarisch. Damit die Spannung in der Mannschaft auch ja nicht nachlässt, um Gottes willen nicht jetzt. In der Umkleidekabine Napolis, erzählte er neulich, stehe eine Statue von Maradona, die viele seiner Spieler berührten, bevor sie rausgingen aufs Feld, etwa so, wie Gläubige Heiligenbilder berühren. Er selbst mache das auch.

Zur Symbiose mit der Stadt fehlt nicht mehr viel. Es fragt auch niemand mehr, warum er sich keine Wohnung genommen habe in der Stadt. Sein Hotel, übrigens, liegt geostrategisch ziemlich ideal, zwischen Zentrum und Ringstraße: Napoli hat sein Trainingszentrum in Castel Volturno, 20 Minuten entfernt. Man fragt auch deshalb nicht mehr nach seiner Integration, weil Spalletti immer mal wieder einen Satz in Neapolitanisch fallen lässt - mit Akzent, freilich, Toskaner verraten sich mit ihrem gehauchten c. Einmal sagte er: "'A famme nun tene suonno." Der Hunger ist nie müde. Gemeint war der Hunger auf den Sieg, den lang ersehnten und unaussprechbaren.

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