In den vergangenen Tagen hat sich Anna Seidel noch einmal ihre Fotos vorgenommen. Bild für Bild ist sie durchgegangen, weniger aus Nostalgie als auf der Suche nach geeigneten Motiven für ein Posting zum Karriereabschied. Skurriles war darunter: etwa Aufnahmen aus Utrecht, wo sie als Abiturientin monatelang auf einem Campingplatz gewohnt hatte, weil sie in Holland trainierte, obwohl sie in Dresden Klausuren schrieb. Manches erinnerte sie an Triumphe, an wilde Jagden übers Eis, anderes an Tragödien, an Stürze. "Aber ich habe den Absprung gut geschafft", sagt Anna Seidel, "und dafür fühle ich eigentlich nur Dankbarkeit."
Den Absprung zu finden, den richtigen Moment, um sich von einer Leidenschaft zu lösen, die der Lebensinhalt war, gehört zu den schwierigsten Aufgaben, die Athleten zu meistern haben. Anna Seidel, die beste Shorttrackerin, die hierzulande über Eis flitzte, mag erstaunlich jung sein - am Sonntag wurde sie 26 -, aber überraschend kam der Abschied nicht. Ihr letzter Wettkampf liegt ein Jahr zurück. Danach nahm sie eine Pause. Sie wollte sich klar darüber werden, wie es weitergehen sollte in ihrem Leben. Zehn Jahre Höchstleistungssport steckten zu diesem Zeitpunkt in ihren Knochen - samt einer letzten verbliebenen Schraube in der Wade: Reminiszenz an einen Sport, bei dem es mit Geschwindigkeiten von bis zu 40 km/h im Pulk um die Kurve geht, Unfälle inklusive.
Shorttrack:Ein Schritt zurück in die Sonne
Anna Seidel war in der Form ihres Lebens, als sie sich beim Shorttrack-Training das Schien- und Wadenbein brach. Nun ist sie zurück und will es zu den dritten Olympischen Spielen schaffen - auch wenn erste Erfahrungen in Peking auf anstrengende Spiele hindeuten.
Schon nach den Olympischen Winterspielen von Peking 2022 habe sie gezweifelt, sagt Anna Seidel, "weil ich so erschöpft und ermüdet war". Damals hatte sie sich nach dem schweren Schien- und Wadenbeinbruch, erlitten bei einem Trainingssturz, und der anschließenden Operation gerade wieder in die Weltspitze zurückgekämpft. Ihr olympisches 1500-m-Rennen lief sie mit einer Metallplatte im Bein. Jener Winter voller Qualen mit einer Platte, die schmerzhaft an Haut und Knochen rieb, war alles andere als ihr erhoffter, versöhnlicher Abschluss der Athletenlaufbahn, und so hängte sie noch ein Wettkampfjahr dran. Es wurde eine schöne Saison 2022/2023, sagt sie, "die beste der Karriere", mit einem zweiten Platz beim Weltcup in Dresden vor Familie und Freunden in der heimischen Arena sowie EM-Bronze, der siebten Medaille, die sie bei Europameisterschaften über die Jahre insgesamt gewonnen hat.
Niemand muss sich rechtfertigen für eine Entscheidung, die der Vernunft entspringt: Shorttrack ist ein riskanter Sport
Mittlerweile, so sagt Anna Seidel, sei der Beinbruch verheilt: "Es ist nicht ganz so wie zuvor, aber ich spüre keine Folgeschäden, die mich im Alltag einschränken." Sie hielt sich fit in ihrem Sabbatjahr und stellte nach einer Weile fest, dass sie zwar die Wettkämpfe vermisste, jedoch nicht das Training: "Und wenn solche Gedanken kommen, ist es schwer, noch einmal die Motivation und Leidenschaft aufzubringen."
Niemand muss sich rechtfertigen für eine Entscheidung, die der Vernunft entspringt. Shorttrack ist ein riskanter Sport, es gibt Gründe für den Halsschutz, die Helmpflicht und die meterdicke Polsterung der Bahnen. Anna Seidel, die schon im Alter von 15 Jahren bei den Winterspielen in Sotschi debütierte, damals als Jüngste des Olympiateams, hat immer wieder Verletzungen erlitten. 2016 brach sie sich Brustwirbel im Training. "Das war eng", sagt sie, "ich hätte auch querschnittgelähmt sein können." Für eine vollständige Heilung des doppelten Beinbruchs gab es anfangs ebenfalls keine Garantie. "Ich muss mein Glück vielleicht auch nicht ein drittes Mal herausfordern", sagt sie. Schließlich sei sie immer mit einem blauen Auge davongekommen, "auch dafür sollte man dankbar sein".
Ihre Interessen waren nie nur auf das Kreiseln auf dem Eis begrenzt. Anna Seidel war zwischenzeitlich Athletensprecherin, sie hatte nach dem Abitur - und der ungewöhnlichen Trainingsepisode in Holland - ein paar Semester BWL studiert. Vor zwei Jahren nahm sie ein Fernstudium des Medienmanagements auf, das sie beenden will. Praktika und Prüfungen stehen an. Und nach Ostern wird sie ein paar Koffer packen und zu ihrem Freund, dem NHL-Profi Moritz Seider, in die USA, nach Detroit, ziehen. Sie kennen sich ewig, ihr Bruder hatte als Kind mit Seider in Erfurt Eishockey gespielt.
Wenn Anna Seidel überhaupt etwas bedauert in ihrer Sportlerkarriere, dann den Umstand, "dass Olympia und ich keine Freunde geworden sind", wie sie es seufzend formuliert. Sie hat es dreimal versucht - mehr als Enttäuschungen, Stürze, Penaltys, hintere Platzierungen gab es nicht zu verbuchen. Die Höhepunkte? Der Spaß, den sie auf dem Eis oft hatte.
Sie hat tatsächlich seit ihrem letzten Wettkampf, seit einem Jahr, nicht mehr auf Schlittschuhen gestanden. "Ich habe es nicht übers Herz gebracht", sagt sie, "ich hatte es vor, aber alles hat sich gesträubt." Nächsten Winter, so glaubt sie, wird sie mal wieder ein paar Runden laufen. Nicht auf den langen Kufen, sondern mit ihren kleinen Eishockeyschuhen. Auch in Detroit gibt es ja Bahnen mit Publikumslauf.