Sehr gesittet saß das Publikum in der Capital Indoor Arena auf den Plätzen: Jeder zweite Stuhl war frei, und zum Auftakt schwenkte es rhythmisch zur Musik kleine rote Fähnchen. Keiner fiel aus der Reihe, keiner tanzte Hip Hop auf den Tribünengängen wie vor vier Jahren in Südkorea. Bei den Pekinger Pandemiespielen sind die Gäste ausgewählt, eingeladen und meist vorbildlich diszipliniert.
Das heißt nicht, dass sie nichts vom Shortrack verstehen: Früher, so hat es die große Wang Meng der Zeitung China Daily erzählt, hätten ihre Landsleute gedacht, "viele Wintersportarten gehören den Europäern". Im Shorttrack jedoch ist die Volksrepublik eine weiße Macht - dank Wang Meng, 36, bis heute Chinas höchstdekorierte Olympionikin mit vier Goldmedaillen aus Turin und Vancouver und 20 WM-Titeln. Und wenn die wilde Hatz im kleinen Oval beginnt, dann gibt es auch in der ehrwürdigen Hauptstadthalle kein Halten mehr: Gejohle, Gebrüll, Fahnenschwenken auf der Gegentribüne, jetzt auch mit großen Nationalflaggen statt den kleinen Winkelementen. Nur der vorschriftsmäßige Sitzabstand bleibt bestehen.
Das war also die Kulisse, in der Anna Seidel, Deutschlands einzige Shorttrackerin in Peking, um die Runden fegen wollte. Und nach 1:50 Minuten war der Zauber schon vorbei.
"Am liebsten würde ich mich noch mal aufstellen und neu laufen", sagt Seidel
Ihr 1500-Meter-Viertelfinale in der zweiten Startgruppe des Abends begann furios, sie hatte sich monatelang darauf gefreut. Zwischenzeitlich schob sie sich an Position zwei, fiel wieder zurück und drängte auf der Gegengeraden an den Konkurrentinnen vorbei. Dann verlor sie in einer Kurve vier Runden vor Schluss im Pulk die Balance und stürzte. Sie rappelte sich auf vom Eis, lief weiter, erreichte weit nach allen anderen das Ziel und wurde zu allem Überfluss noch disqualifiziert. Die Strafe resultierte aus dem Überholmanöver, bei dem sie der US-Amerikanerin Julie Letai regelwidrig in die Quere kam, erzählte sie stockend, als sie eine halbe Stunde später vor den Kameras und Mikrofonen stand. Da flossen die Tränen immer noch.
"Es ging mir schon mal besser", sagte Anna Seidel, 23 Jahre alt. Sie hatte nur diese eine Chance bei den Winterspielen, ausgerechnet am letzten Tag der Shorttracker in der Hauptstadthalle. Für alle anderen Distanzen konnte sie nicht mehr rechtzeitig qualifizieren nach ihrer schweren Verletzung vor knapp einem Jahr, als sie sich kurz vor der Weltmeisterschaft in Dordrecht, gerade mit drei EM-Medaillen gekürt, das Waden- und Schienbein brach. Die Genesung zog sich über Monate bis in den Herbst, lange ging sie an Krücken. Noch immer läuft Anna Seidel mit einer Metallplatte im Bein, und das Gehen - wenn auch nicht das Gleiten - bereitet bisweilen Schmerzen.
Unter diesen Umständen war schon die Nominierung für die Olympiamannschaft eine unerhörte Leistung. Aber Anna Seidel aus Dresden, die in China ihre dritten Winterspiele erlebt und bei Olympia stets unter ihren Möglichkeiten blieb, wollte diesmal mehr, nachdem sie zwei Wochen lang in der Pekinger Halle trainiert hatte. "Am liebsten würde ich mich noch mal aufstellen und neu laufen", sagte sie, bevor sie ging. Die Jagd auf Kufen lief unterdessen einfach ohne sie weiter. Das 1500-Meter-Rennen gewann die Südkoreanerin Choi Min-jeon wie schon vor vier Jahren in Pyeongchang.
Und dann wurde es noch einmal richtig laut, als im Staffelfinale über 5000 Meter der Männer Team China das Eis betrat. Doch den Gastgebern erging es wie Anna Seidel: Ein Läufer, Sun Long, stürzte im Gedränge, China blieb nur der fünfte Rang. Allerdings hatte Sun Long schon vergangene Woche mit dem Mixed-Team eine von zwei Shorttrack-Goldmedaillen für die Volksrepublik erobert. Das Publikum verließ die Halle noch vor der Zeremonie für die siegreichen Kanadier vorbildlich diszipliniert. Kein rotes Fähnchen blieb zurück.