Formel 1:Hamilton schwingt den Hammer

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Grübeln auf dem Podium: Lewis Hamilton, 36, hat den 15 Jahre jüngeren Lando Norris in Sotschi nur deshalb noch vor dem Ziel eingefangen, weil dieser zu nassforsch auf Trockenreifen rollte. (Foto: Zak Mauger /imago)

Mercedes unterlaufen im engen WM-Kampf ungewohnte Fehler, doch Lewis Hamilton hält das Titelduell mit Max Vertappen weiter offen - weil er Qualitäten hat, die über Statistiken hinausreichen.

Von Elmar Brümmer, Sotschi/Stuttgart

Als Adrenalinausschüttung und Regen im Autodrom von Sotschi nachlassen und die Rennanzüge halbwegs wieder trocken sind, wird deutlich, wie dramatisch dieser Große Preis von Russland am Ende gewesen ist. Am sogenannten Gatter, wo die Fernsehkameras lauern, versuchen sich die beiden britischen Hauptdarsteller in der Aufarbeitung der Geschehnisse. Lewis Hamilton, der Sieger, und sein Landsmann Lando Norris, der beinahe gewonnen hätte, tasten sich im Dialog an den schmalen Grat zwischen Triumph und Tragik heran.

Der Champion ist neugierig: "Du wolltest nicht reinkommen? Ich ja auch nicht, ich dachte ja, dass ich dich gleich habe." Norris tut diese Gesprächstherapie sichtlich gut: "Bis dahin sah es doch so aus, als ob die Slicks reichen für die nasse Piste. Mir hat man auch gesagt, dass der Regen nicht stärker werden würde. Offenbar hatte dein Team andere Informationen ..." Hamilton antwortet nachdenklich: "Yeah, meine Mannschaft war großartig heute. Sie wollten mich schon früher reinholen, aber beim ersten Mal habe ich das auch verweigert."

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Kurioses Jubiläum: Lewis Hamilton kommt zu seinem 100. Sieg in einem Grand Prix, weil kurz vor Rennende der bis dahin Führende Lando Norris einen schmerzlichen taktischen Fehler begeht.

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Instinkt und Vernunft, dazu das nötige Risikobewusstsein im engsten Titelkampf seit langem - das ist das, was Hamilton einem der größten Formel-1-Talente noch voraus hat. Der Grand Prix in Russland war eines der vielen denkwürdigen Rennen einer Formel-1-Saison, die völlig unzutreffend nur als Übergangsjahr tituliert wurde. Eine höchst launische Regenfront über dem Schwarzen Meer hatte sich entschieden, die letzten zehn Runden des 15. WM-Laufs noch einmal richtig aufzumischen. Dem Spitzenreiter Norris kostete das den allerersten Sieg in der Königsklasse. Dem bis dahin zweitplatzierten Hamiltons bescherte es dank eines Wechsels auf Allwetterreifen vier Runden vor Schluss den 100. Triumph seiner Karriere, er durchstieß damit auch die 4000-Punkte-Marke und holte sich die Führung in der Gesamtwertung zurück.

Max Verstappen fährt von ganz hinten noch auf Platz zwei. "Dieser Platz fühlt sich wie ein Sieg für uns an", sagt Red-Bull-Teamchef Christian Horner

Ein bisschen dürfte die Situation von Norris, der schlussendlich auch noch einen Sicherheitsstopp einlegen musste und am Ende Siebter wurde, Hamilton ans eigene Schicksal im Gesamtbild der Weltmeisterschaft erinnern. Zwar führt der Titelverteidiger jetzt wieder mit zwei Pünktchen vor Herausforderer Max Verstappen. Doch insgesamt konnte er in Monza und Sotschi, die als ausgesprochene Mercedes-Strecken gelten, lediglich fünf Punkte auf den Niederländer gutmachen.

Natürlich spielt da der Crash in Italien eine Rolle, aber eben auch Verstappens großartige Fahrt von ganz hinten auf Rang zwei im russischen Autodrom. Er hatte als einer der ersten erkannt, dass es besser wäre, für die Schlussphase auf Allwetterreifen zu setzen. So gewann er entscheidende zwölf Punkte hinzu. "Dieser zweite Platz fühlt sich wie ein Sieg für uns an", bestätigt Red-Bull-Teamchef Christian Horner, "das macht sehr viel Mut."

Verstappen hat jetzt für die verbleibenden sieben Rennen einen frischen vierten Motor, während Mercedes trotz fortgesetztem Bangen um die Zuverlässigkeit der eigenen Aggregate einen Wechsel Hamiltons auf einen nagelneuen Turbo noch hinauszögert. Von jetzt an werden angesichts der bevorstehenden Streckencharakteristiken etwaige Rückversetzungen nicht mehr so gut zu kompensieren sein wie in Russland.

Im Lager der Mercedes-Gegenspieler wird das als verdienter Ausgleich gewertet. Schließlich war ein zusätzliches Honda-Aggregat deshalb nötig geworden, weil ein Motor beim Crash von Silverstone kaputt gegangen war, für den Hamilton die Hauptschuld durch die Rennkommissare angelastet bekommen hatte. Entsprechend sorgenvoll zeigt sich Mercedes-Teamchef Toto Wolff: "Das Hin und Her wird bis zum Saisonende so bleiben. Ich glaube nicht, dass eines der beiden Teams davonziehen kann. Es spitzt sich auf das Finale hin zu."

Enttäuscht nach dem ersten Sieg in der Formel 1: McLaren-Pilot Lando Norris war so nah dran am großen Erfolg. (Foto: Maxim Shemetov/Reuters)

Ausgerechnet in dieser entscheidenden Phase des so engen WM-Kampfs mit Red Bull Racing unterlaufen dem sonst so perfekten Werksteam ungewohnt kleine Fehler. In der Taktik, bei den Boxenstopps, auch den Fahrern - in Sotschi vor allem in der Qualifikation zu besichtigen. Hamilton betont, dass es schon viele Rennen in diesem Jahr gegeben habe, an denen das Team nicht das Maximum herausgeholt habe und nimmt sich dabei ausdrücklich mit in die Pflicht.

"Zwei Drittel der Saison waren die anderen im Vorteil. Aber trotzdem sind wir noch mitten in diesem Titelrennen", sagt der amtierende Champion. "Zweifelsohne wird es schwer werden. In den nächsten Rennen geht es um alles." Perfektionist Wolff macht keinen Hehl daraus, wie sehr ihn das ärgert: "Das Ergebnis war bitter. Momentan hangeln wir uns von Wochenende zu Wochenende. Die Siege muss man so nehmen, wie sie kommen." Auch der Österreicher weiß, dass ein Ausfall einer der beiden WM-Rivalen den Titelkampf wohl entscheiden würde.

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Immerhin: Wenn es drauf ankommt, ist im Rennen auf Hamiltons Leistungssteigerung, gemeinhin als hammertime bekannt, Verlass. Zur Halbzeit in Sotschi funkte Wolff dem Briten ins Cockpit: "Du kannst es gewinnen." Da war eher der Wunsch Vater des Gedankens. Als er in der chaotischen Schlussphase dann mit regentauglichen Pneus auf die Piste zurückkam, hatte er vier Runden Zeit, um 24 Sekunden auf den Führenden gutzumachen - er brauchte nur anderthalb Umläufe. In scheinbar ausweglosen Situationen zu brillieren, das ist über alle Statistiken hinaus das, was Hamilton zu einer Ausnahmeerscheinung in diesem Sport macht.

Um den Triumph und seinen Meilenstein einzuordnen, erzählt Hamilton noch, dass er es sich nie habe träumen lassen, mit 36 noch den Kampf gegen eine talentierte Generation junger Piloten aufnehmen zu können - und darin zu bestehen. Für den 21 Jahre alten Norris bleibt der Trost seiner ersten Pole-Position. Auf Social Media postete er ein Bild, dass ihn ins Leere starrend zeigt, darunter steht lediglich: "Mit gebrochenem Herzen." Wer immer noch denkt, dass die Formel 1 bloß ein technischer Sport ist, der wird sie nie begreifen.

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