Die älteren Skienthusiasten werden sich noch erinnern: Es existierten Zeiten, da ging es vor Weltcup-Wochenenden fast immer zuvorderst um die Frage, welcher Alpinist wohl am schnellsten den Hang hinabdüsen wird. Und klar, vor der Slalompremiere der Männer im österreichischen Ötztal an diesem Samstag (10.45 und 13.45 Uhr, BR) und den ersten beiden Speedrennen der Frauen in Zermatt/Schweiz (Samstag und Sonntag, je 11.45 Uhr, BR) lässt sich auch genau darüber debattieren. Die entscheidende Frage lautet im November 2023 allerdings: Wird die Ski-Weltelite im Ötztal und am Matterhorn überhaupt die Hänge hinabfahren können?
Die gute Nachricht für die Sportler und geneigten Zuseher: An beiden Orten liegt dem Vernehmen nach ausreichend Schnee, die Webcams in den Skigebieten zeigen jedenfalls Bilder mit schönen weißen Flächen, die tatsächlich stark an Winter erinnern. Stimmen die Wettervorhersagen, wird am Samstag in Gurgl die Sonne scheinen - und Zermatt sowohl am Samstag als auch am Sonntag von starkem Wind verschont bleiben. So dürfte es durchaus lohnend sein, sich den viel schöneren sportlichen Fragen zu widmen.
Ski alpin:Lächelnd in Lappland
Lena Dürr startet mit zwei Podestplätzen in Levi nahezu perfekt in die Saison. Der Auftakt in Finnland zeigt, dass mit der 32-Jährigen im Slalom erneut zu rechnen ist - und mit einer Slowakin, der aber ein folgenschwerer Patzer unterläuft.
Aus deutscher Sicht werden sicherlich erste Hinweise erhältlich sein, ob Kira Weidle und Linus Straßer sich in der Weltspitze behaupten oder eventuell gar noch weiter entwickeln können. Weidle, 27, vom SC Starnberg ließ jedenfalls vor Saisonstart deutlich wissen, in welche Richtung es gehen soll: hinauf - beziehungsweise sehr schnell den Hang hinunter, also noch schneller als bisher. "Der Weltcupsieg steht immer noch ganz oben auf meiner Liste", erklärt Weidle, "und Podestplätze, so viele wie möglich." Sechs Mal ist ihr eine Podiumsfahrt im Weltcup bisher geglückt, stets in der Abfahrt, hinzu kommt Abfahrtssilber bei der Ski-WM in Cortina d'Ampezzo 2021. Sie wolle nun "wieder einen Schritt nach vorne machen", so Weidle, "auch im Super-G".
Um sich im Super-G zu verbessern, hat Weidle den Trainingsfokus zuletzt mehr auf den Riesenslalom gelegt
Beim Super-G, der so heißt, weil Super-Giantslalom (Super-Riesenslalom) spannender klingt als Mini-Abfahrtslauf, werden die Tore enger gesteckt, was den absoluten Speedspezialisten bisweilen weniger entgegenkommt - aber immer noch mehr als der normale Riesenslalom. Um sich im Super-G zu verbessern, so Weidle, habe sie im Sommer vor dem Einstieg ins Speedtraining in den chilenischen Bergen "sehr viel Technik- und Riesenslalomtraining" betrieben. Diese Übungsform helfe ihr, "um Spritzigkeit beizubehalten, was dann auch wieder für den Super-G wichtig ist". Grundsätzlich wolle sie "noch konstanter vorne reinfahren".
In Zermatt werden sie hoffen, dass eine Konstante durchbrochen wird: Bisher sind sämtliche dort geplanten Ski-Weltcuprennen abgesagt worden, vergangenes Jahr vier, nun die beiden Männerabfahrten. Sie sei "nach wie vor überzeugt, dass das ein cooles Rennen sein kann, das große Fragezeichen ist sicherlich das Wetter und die Fairness des Ganzen, wenn da zu 90 Prozent der Wind geht", sagt Weidle. Für Samstag und Sonntag ist am Start in 3800 Metern Höhe zwar Wind vorhergesagt, allerdings lediglich bei vertretbaren Geschwindigkeiten von 14 bis 18 Stundenkilometern - falls es tatsächlich so kommt. "Es wird spannend", sagt Weidle, die bis zum ersten Training auf der Strecke am Mittwoch nur den Abschnitt ganz oben gefahren war. "Das sind vielleicht die ersten drei Tore."
Deutlich enger stehen die Stangen am Samstag bei der zweiten Premiere des Wochenendes beisammen: Gurgl bezeichnet nicht, wie man meinen möchte, einen Hersteller für Mundwasser, sondern einen Wintersportort bei Sölden, wo sich die besten Slalomfahrer der Männer treffen.
Straßer zählt zu den weltweit besten Slalomfahrern, das verschafft ihm für Gurgl einen entscheidenden Vorteil
Auf dem Gurgler Weltcuphang, der sogenannten Kirchenkarpiste in Hochgurgl, wird unter anderem Linus Straßer zu sehen sein, der vielleicht beste - jedenfalls in den vergangenen Jahren erfolgreichste - deutsche Athlet bei den Männern, und das, obwohl er für den TSV 1860 München fährt. Als Siebter im Slalom-Gesamtweltcup der vergangenen Saison geht der 31-Jährige in dieser Disziplin auf der Piste von Hochgurgl in Startgruppe eins ins Rennen, mit einer der ersten acht Startnummern, je nach Auslosung. Also mit dem Vorteil einer noch nahezu furchenfreien Piste.
Ski Alpin:Der wohl unglücklichste Skifahrer der Welt
Stefan Luitz war "auf einem sehr guten Weg" zurück in den Ski-Weltcup. Nach einem Knöchelbruch kurz vor dem ersten Rennen ist die Saison womöglich für ihn gelaufen. Schon wieder. Chronik einer Pechsträhne.
Straßer, der im Sommer vier Wochen lang im Schnee von Argentinien trainierte, spricht von einer "guten Vorbereitung" bei nicht leicht zu entdeckenden "winterlichen Verhältnissen". 500 Weltcuppunkte strebe er an, so viele wie er noch nie in einer Saison gesammelt hat. Die wolle er zuvorderst oder eben ausschließlich im Slalom einfahren, in den ersten Wochen und Monaten sei für ihn zunächst "kein Riesenslalom" geplant, auch weil er dort mit sehr hoher Startnummer antreten müsste, ein erheblicher Nachteil. Schließlich will er "bei jedem Rennen konkurrenzfähig sein, das heißt, ums Podium mitfahren oder eben auch um Siege".
Letztmals ganz oben stand Straßer vor gut zwei Jahren beim prestigeträchtigen Nachtslalom von Schladming. Vergangenes Jahr indes erlebte er ausgerechnet dort ein kleines sportliches Drama: Als Titelverteidiger und Mitfavorit angetreten, fädelte er vor 40 000 Zuschauern am zweiten Tor des ersten Laufs ein - und schied nach Sekunden aus.
Gurgl ist dagegen das einzig unbeschriebene Blatt des alpinen Slalomweltcups, dazu passt der umfängliche Weißraum in den Gurgler Webcam-Videos. "Ich bin das erste Mal dort, ich kenne selber den Hang nicht", sagt Straßer. "Aber normalerweise, wenn Weltcuprennen in österreichischer Hand sind, ist das eigentlich immer ganz gut organisiert."
Der Skienthusiast Straßer muss es wissen, etwa aus Kitzbühel, wo er zuletzt im Slalom Vierter wurde - oder eben aus Schladming, dem Ort des Malheurs an Tor zwei. Straßer hatte kein Wort mehr an diesem Abend von Schladming gesprochen, jedenfalls nicht mit Reportern, womöglich um sicherzustellen, dass er niemandem an die, nun ja, Gurgel geht.