England im Halbfinale:Nah dran an der Sensation

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Spielerin des Abends, Schützin des entscheidenden Tores: Alessia Russo (Mitte) feiert mit ihren Mitspielerinnen das 2:1, das England ins Halbfinale dieser WM bringt. (Foto: Rick Rycroft/dpa)

Die außergewöhnliche Geschichte Kolumbiens bei dieser WM endet unglücklich - die Europameisterinnen aus England stehen im Halbfinale.

Von Anna Dreher, Sydney

Ein letztes Mal noch schoss Linda Caicedo aufs Tor. Doch nach 97 Minuten und mit dem Druck der wohl letzten Chance verzog sie und sank kurz danach erschöpft und enttäuscht auf den Boden. Die 18-Jährige hätte mit Kolumbien beinahe ihre außergewöhnliche Geschichte bei dieser Weltmeisterschaft fortgesetzt. Doch am Ende war es der Favorit, der sich vor 75 784 Zuschauern im Stadium Australia von Sydney durchsetzen konnte: Zum dritten Mal stehen Englands Fußballerinnen in einem WM-Halbfinale. Sie treffen am Mittwoch an selber Stelle auf Gastgeber Australien (12 Uhr, ARD), um den zweiten Finalplatz kämpfen am Dienstag in Auckland Spanien und Schweden (10 Uhr, ZDF). Keine dieser Nationen hat bei den Frauen bisher den Titel gewinnen können.

"Wir halten den Traum am Leben. Das war ein harter Test", sagte Siegtorschützin Alessia Russo. "Das Tolle an dieser Mannschaft ist, dass wir immer Wege finden, uns zu verbessern." Mit Kolumbien hatten die Engländerinnen den vermeintlich einfachsten Gegner im Viertelfinale erwischt. Unter den acht verbleibenden Nationen waren die Südamerikanerinnen die einzigen Außenseiterinnen bei einem Turnier, von dem sich mit Kanada, Brasilien, Deutschland und im Achtelfinale auch Titelverteidiger USA schon diverse Favoriten verabschiedet hatten. Mit einem unbändigen Willen, schnellen, athletischen Spielerinnen wie Mayra Ramirez und der als eines der größten Talente geltenden Linda Caicedo hatten es die Kolumbianerinnen so weit gebracht wie noch nie. Und auf dem Weg auch die DFB-Frauen besiegt.

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Doch mit den Engländerinnen stand ihnen nun ein Team gegenüber, das bei dieser WM bisher zwar noch nicht so souverän aufgetreten ist wie bei seinem EM-Triumph im vergangenen Sommer, aber das genau aus diesem Erfolg ein enormes Selbstbewusstsein gewonnen hat. Trainerin Sarina Wiegman lobte die Widerstandskraft und den Zusammenhalt ihrer Spielerinnen. "Wir haben versucht, einen Plan zu haben, bei diesem zu bleiben und unsere Emotionen unter Kontrolle zu halten", sagte die Niederländerin. "Das ist eine unserer Stärken, wir bleiben ruhig. Wir sind in Rückstand geraten, aber man sieht keine Panik." In der sechsten Minute hatte ihr Team gleich eine doppelte Chance, doch die Schüsse von Lauren Hemp und Russo wurden geblockt.

Wie aus dem Nichts setzt Leicy Santos einen Kunstschuss ab

England fehlte Lauren James, die für zwei Partien gesperrt worden war, nachdem sie im Achtelfinale gegen Nigeria der am Boden liegenden Michelle Alozie auf den Rücken gestiegen war und dafür Rot gesehen hatte. Mit drei Toren und drei Vorlagen in vier WM-Einsätzen hatte die 21-Jährige bisher die größte Gefahr ausgestrahlt. Für sie kam im 3-5-2-System Ella Toone. Und auch ohne James rannten ihre Kolleginnen unermüdlich an. Die erste Hälfte dieses Spiels fand fast ausschließlich in der gegnerischen Hälfte statt. Die Engländerinnen waren diverse Male nah dran an der Führung, doch ihnen fehlten Ideen und die kolumbianische Abwehr stand zu dicht.

Catalina Perez hechtet noch hinterher, doch sie kommt zu spät - Lauren Hemp kann den Ball zum Ausgleich über die Linie bringen. (Foto: Dean Lewins/AAP/Imago)

Wie aus dem Nichts setzte Leicy Santos in der 44. Minute einen Kunstschuss ab. Nach einem Querpass von Caicedo wurde Santos von niemandem wirklich angegriffen, und bevor sie sich noch weiter nach vorne wagte, zog die 27-Jährige von Atletico Madrid einfach vom rechten Strafraumeck ab. Englands Keeperin Mary Earps machte sich so lang wie sie konnte, doch der Ball zischte zwischen ihren Fingerspitzen und der Latte ins Netz. Und was vorher schon durch "Colombia! Colombia!"-Rufe deutlich wurde, war nun endgültig spürbar: Wie schon bei den vorherigen vier WM-Auftritten machten Tausende Kolumbien-Fans einen derartigen Lärm, als sei dieses ein Heimspiel im Estadio Deportivo in Cali. "Die Kolumbianerinnen heute Abend waren unglaublich, nicht nur die Spielerinnen, sondern auch die Fans", sagte Russo. "Das ist es, worum es bei der Weltmeisterschaft geht."

Dass jedoch auch viele Anhänger der Europameisterinnen nach Sydney gekommen waren, war sieben Minuten später zu hören. Am in dieser Szene ersten Schuss der Lionesses war Torhüterin Catalina Perez - ab kommender Saison in der Bundesliga bei Werder Bremen - noch dran, sie ließ den Ball jedoch fatalerweise aus den Händen. Und als sie diesem hektisch hinterher hechtete, stocherte Russo den Ball unter ihrem Körper durch. Von links kam Hemp und trat ihn über die Linie zum 1:1-Ausgleich.

Statt sich verunsichern zu lassen, drehten die Kolumbianerinnen auf

Die Antwort darauf gaben die Kolumbianerinnen nach der Pause: Ramirez zog von der rechten Strafraumseite ab, verfehlte das kurze Eck jedoch knapp. "Ich glaube, wir müssen noch einen Gang zulegen, und das können wir auch", hatte Earps vor dem Spiel gesagt. Wie das aussehen konnte, zeigte sich in der 63. Minute. Georgia Stanway vom FC Bayern passte genau in die richtige Lücke, Russo setzte sich gegen zwei Gegnerinnen durch schloss zum 2:1 ab. Perez hatte keine Chance und verletzte sich kurz danach bei einer Aktion, sie musste in der 67. Minute ausgewechselt werden, Ersatzkeeperin Natalia Giraldo kam.

Statt sich davon verunsichern zu lassen, drehten die Kolumbianerinnen auf. Lorena Bedoya hätte beinahe den Ausgleich erzielt, ihren Distanzschuss konnte Earps gerade noch übers Tor lenken. Immer und immer wieder kamen die Überraschungsviertelfinalistinnen dem englischen Tor nahe, allein, sie belohnten sich nicht. Ihnen war vor diesem Turnier der Ruf einer harten Gangart vorausgeilt, ein Testspiel gegen Irland war nach 20 Minuten abgebrochen worden. Doch an diesem Abend zeigten sie wie schon zuvor, dass es auch ein großes fußballerisches Können ist, das dieses Team auszeichnet. Das reichte gegen England zwar nicht zur Sensation, aber die Kolumbianerinnen waren sehr nah dran.

"Diese WM ist unglaublich herausfordernd", sagte Wiegman. "Kein Ergebnis konnte vorausgesagt werden. Wir hatten sehr harte Spiele. Das Niveau ist so gestiegen, das ist wirklich aufregend." Bei der nächsten Partie wird ihr Team noch stärker das Gefühl eines Auswärtsspiels haben - es ist ja auch eins. Die Australierinnen sind zuletzt auch von den Zuschauern getragen worden, bei dem historischen Halbfinale wird das erst Recht der Fall sein. Und die Rivalität zwischen beiden ist groß. Als Wiegman auf der Pressekonferenz gefragt wurde, ob ihr bewusst sei, wie groß dieses Spiel werde, sagte die Niederländerin: "Das wird wohl größer, als ich es mir vorgestellt hatte", sagte Wiegman. "Ich werde mir von meinen Spielerinnen erklären lassen, was es damit auf sich hat." Das jüngste Aufeinandertreffen im April gewann Australien 2:0.

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