Der traurigste Gedanke, der einem zum frisch verkündeten Maulkorberlass des Motorsportweltverbands Fia kommen kann, ist dieser: Er dürfte reichlich überflüssig sein. Denn derjenige Rennfahrer, auf den die Neufassung des "International Sporting Code" eigentlich zielt, hat vor wenigen Tagen seine Karriere beendet: Sebastian Vettel - der viermalige Weltmeister, der die noch immer viel zu fossile Formel 1 in seinen letzten Jahren auf der Piste mit unbequemen ökologischen Botschaften vor sich hergetrieben hat.
"Politische, religiöse und persönliche Äußerungen oder Kommentare" ohne vorherige Genehmigung der Fia stellen einen Regelverstoß dar, so heißt es nun im Verhaltenskodex für Autosportler. Nanu? Brettert da einer mit dem Lkw über Täubchen?
18 der 20 verbliebenen Fahrer in der Formel sind ohnehin Piloten, die dem Ideal des Fia-Präsidenten Mohammed Ben Sulayem ziemlich nahe kommen: Sie sitzen im Auto, fahren im Kreis, tragen so zur wundersamen Verwandlung von Benzin in CO₂ und Millionen von Dollar bei, ansonsten aber halten sie den Mund. So wie früher, in den goldenen Zeiten der Formel 1, nicht wahr? "Fahrer wie Niki Lauda und Alain Prost ging es nur ums Fahren", hat Ben Sulayem vor ein paar Monaten bemerkt: "Heute haben wir Vettel auf einem Rad in Regenbogenfarben, Hamilton setzt sich für Menschenrechte ein, Norris spricht mentale Schwierigkeiten an."
Ja, geht's denn noch? Reflektierte Sportler mit Sendungsbewusstsein? Gut, dass zumindest Vettel fort ist. Sicherheitshalber: trotzdem Zensur!
Einen wie Vettel hätten andere Sportarten gerne gehabt
Bevor allzu große Irritationen aufkommen konnten, verwies ein Verbandssprecher in der Whatsapp-Gruppe für Journalisten auf den Ethikkodex des Internationalen Olympischen Komitees und merkte an, die Fia habe ihre Regularien lediglich "im Einklang mit der politischen Neutralität des Sports als ein universelles ethisches Grundprinzip der olympischen Bewegung" aktualisiert. Exzellentes Argument! Es war wahrlich höchste Zeit, dass sich der Motorsport als olympische Kernsportart in das für Diskuswerfer und Synchronschwimmerinnen geltende Korsett zwängt. Und hat nicht auch der "One Love"-Bindenkrepierer bei der Fußball-WM in Katar bewiesen, dass ein zu einfältig vorgetragener Protest den Sport vergiften kann?
Andererseits: Wer verfügt, dass Athleten ihr persönliches Befinden nicht äußern dürfen, müsste der nicht darauf achten, dass der Rennkalender niemanden zwingt, an Orten zu fahren, an denen sich Fahrer unbehaglich fühlen? So wie Vettel, der unlängst im SZ-Interview forderte, die Formel 1 sollte einen Bogen um Staaten wie Saudi-Arabien, Katar und China machen, solange dort nicht ein Mindestmaß an Menschenrechten gewahrt wird. Oder Hamilton, der in den ersten Tagen der Pandemie seine Stimme erhob, als die Formel 1 auf Teufel komm raus das Rennen in Melbourne durchzuziehen wollte, und klagte: "Cash is king."
Worum geht es der Formel 1? Nicht so sehr um eine Zensur von Hamiltons Lebensthema. Den Kampf des siebenmaligen Weltmeisters gegen Rassismus und für Diversität hat die Rennserie sogar gekapert und in die werbewirksame Kampagne "We race as one" überführt. Es geht ihr eher um die Verhinderung von geschäftsschädigenden Botschaften, wie sie Vettel vorgetragen hat. Sein stetes Mahnen, die Rennserie verbummele den Wandel zur Klimaneutralität, stand ja nicht nur im Widerspruch zu seinem Dasein als Rennfahrer. Es brachte vor allem in schöner Regelmäßigkeit den Paten der sündteuren globalen Sause zum Schäumen: das saudi-arabische Unternehmen Aramco, größter Erdölförderer der Welt, Geldgeber von Vettels ehemaligem Team Aston Martin und Hauptsponsor der Formel 1.
Dass sich der Motorsport ein Sprech- und Demonstrationsverbot verpasst hat wie der Fußballweltverband Fifa, müsste er in Wahrheit bedauern: Er wird nun beliebig. Einen Vettel, der sich im Herzen von Viktor Orbáns homophoben Ungarn in einen Ganzkörperregenbogen hüllte, hätten andere Sportarten gerne gehabt. Er ließ die Sonne scheinen an einen finsteren Ort; und für einen Augenblick brachte er der Formel 1 eine gesellschaftliche Relevanz zurück, die sie längst eingebüßt hat.