DFB-Elf in der Nations League:Ein völlig anderes 1:1

Lesezeit: 4 min

Später Dämpfer: Harry Kane trifft per Elfmeter zum 1:1. (Foto: Nick Potts/IMAGO/PA Images)

Die deutsche Elf präsentiert sich gegen England deutlich munterer als zuletzt gegen Italien. Am Ende reicht es zwar wieder nicht zu einem Sieg gegen einen sogenannten Großen - doch die Stärken der Mannschaft deuten sich an.

Von Christof Kneer, München

Thomas Müller lief allein aufs englische Tor zu, unglaublich sah das aus. So, so frei läuft man gegen England eigentlich nie aufs Tor. Einen anderen Spieler könnte das womöglich verwirren, es gab unterwegs viel zu viel Zeit zum Nachdenken, schieß ich nach links, schieß ich nach rechts? Zum Glück war Müller am Ball, dieser weitgereiste WM-Torschützenkönig, ihm durfte die richtige Entscheidung zugetraut werden. Müller rannte bis zur Strafraumgrenze, dann zog er überlegt ab, der Torwart hatte keine Chance. Und der Ball flog am Tor vorbei.

So war das, vor knapp einem Jahr, im EM-Achtelfinale im Londoner Wembley-Stadion. Die deutsche Elf verlor und schied aus, es war das letzte Spiel in der mehrere Jahrhunderte währenden Ära des Bundestrainers Jogi Löw. Ob Löw wohl immer noch Bundestrainer wäre, wenn Müller damals getroffen hätte, wenn die Deutschen ins Viertel- oder Halb- oder gar ins Finale gekommen wären?

DFB-Team in der Einzelkritik
:Musiala zelebriert seine Dribbelkunst

Der Münchner ist lange der auffälligste Deutsche, Jonas Hofmann belohnt sich mit einem Tor, Manuel Neuer ist Manuel Neuer und Nico Schlotterbeck führt einen späten Zweikampf zu waghalsig. Die Einzelkritik.

Von Sebastian Fischer

Wer Löw und die ungeschriebenen Regeln des deutschen Fußballs kennt, mag das nicht für ausgeschlossen halten, sehr wahrscheinlich aber ist es nicht. Löw leitete damals eine Mannschaft an, die nicht mehr wusste, wer sie war. Sie hatte vergessen, ob sie nun defensiv oder offensiv spielen sollte, oder ob ihnen der Bundestrainer das überhaupt gesagt hatte. Das ist es, was die DFB-Elf, die bei der EM 2021 gegen England spielte, von jener Elf unterscheidet, die England ein Jahr später in der Münchner Arena zum Nations-League-Duell empfing. Das Thema ist jetzt ein anderes. Die Elf von Löws Nachfolger Hansi Flick weiß, was sie spielen soll. Es geht jetzt darum, dieses Wissen auf den Platz zu bringen, was oft gut und zuletzt auch mal nicht so gut gelang - beim Nations-League-Auftakt am vorigen Samstag in Italien (1:1), als Flick mit demonstrativer Unzufriedenheit die Sinne zu schärfen versuchte.

An diesem Dienstagabend fehlte nicht viel, und er hätte seiner kurzen Bundestrainer-Zeit den ersten Sieg gegen einen sogenannten Großen hinzufügen können. Bis zur 87. Minute führte sein Team mit 1:0, dann lief Verteidiger Nico Schlotterbeck Englands Stürmer Harry Kane ungestüm in die Beine. Elfmeter Kane. Tor Kane. Eins-zu-eins. Wen es interessiert: In der Nations-League-Tabelle sind die Deutschen zurzeit nur Dritter.

Flick ist nicht der erste Bundestrainer in der Geschichte des DFB, aber er ist der erste, der eine WM im November/Dezember zu bestreiten hat. Das führt zu Gedankenkollisionen der kurioseren Art: Nach Abschaffung der Testspiele muss er die Partien in der Nations League einerseits zu umfangreichen Testreihen nutzen, andererseits muss er den Wettbewerbs-Charakter immer mitdenken und aufs Ergebnis schielen - vor allem wegen der internen Wahrnehmung. Flicks Spieler wollen sich nach zwei missratenen Turnieren vergewissern, dass sie immer noch die Mannschaft sind, für die sie sich gerne halten würden - eine große Nation, die andere große Nationen selbstverständlich besiegen kann. Eine Erkenntnis, auf die sie nun weiterhin warten muss.

Musiala, Raum, Hofmann: Flicks Wechsel im Vergleich zum Italien-Spiel zahlen sich aus

An sieben Stellen hatte der Bundestrainer sein Team im Vergleich zum Italien-Spiel verändert, und schon bald ließ sich feststellen, dass so mancher Wechsel die Elf deutlich erfrischte - obwohl (oder weil?) einige echte (Goretzka, Gnabry) und vermeintliche (Werner, Sané, Kehrer) Stammspieler draußen geblieben waren. Vor allem der junge Jamal Musiala war so gut zum Ball, dass der Ball gar nicht anders konnte, als ihm zu gehorchen. Musiala war kaum vom Ball zu trennen, ihm gelang es immer wieder, unbefangen zu spielen, ohne in Naivitätsverdacht zu geraten. Auch der Hoffenheimer Außenverteidiger David Raum sprintete auf dem linken Flügel in Räume, an die sich der Rivale Thilo Kehrer im Italien-Spiel niemals herangetraut hätte. Und der für Niklas Süle nominierte Schlotterbeck bestätigte all das, was man bislang über ihn zu wissen glaubt: Dass er da hinten eine eindrucksvolle Autorität sein kann - wenn er seine Neigung zum Sekundenschlaf ablegt.

Obwohl die Engländer mit 1000 Saisonspielen aus ihrer stressigen Liga angereist waren, entwickelte sich ein physisches und anspruchsvolles Spiel, in dem sich vor allem Flicks Elf zunächst gute Chancen erspielte. Nach zwei Minuten gab Kai Havertz den Tonfall vor, als er nach Raums Vorlage direkt abzog. Eine Minute später ließ sich die Arbeit des DFB-Standardtrainers Mads Buttgereit besichtigen, nach einer einstudierten Kimmich-Ecke verlängerte Antonio Rüdiger den Ball zu Thomas Müller, Englands Kyle Walker klärte im letzten Moment.

Hofmann erzielte das 1:0 gegen England (Foto) und das 1:1 gegen Ungarn. (Foto: Wolfgang Zink/Imago)

Es war der Auftakt einer turbulenten ersten Hälfte. Der Engländer Kelvin Philipps lag immer wieder auf dem Boden und wurde später ausgewechselt, auch sein Kollege Kieran Trippier und DFB-Rechtsaußen Jonas Hofmann wälzten sich vorübergehend, hinzu kam ein Abseitstor von Hofmann. Zur Pause stand ein 0:0 der munteren Sorte, und Flicks Laune steigerte sich direkt nach der Pause noch. Nach vorzüglichem Kimmich-Pass vollendete Hofmann trocken zum 1:0 (51.), wobei ein Teil-Assist dem englischen Torwart Jordan Pickford gebührte, der schon vor Hofmanns Schuss in vorauseilendem Gehorsam zu Boden ging.

Die Engländer schalteten nun ein Gang höher, allerdings verfügen die Deutschen über den Torwart Manuel Neuer, den Flick genauso wenig aus der Elf rotiert wie alle anderen Trainer der Welt. Mehrmals parierte Neuer so, dass man ihn mal zum Welttorwart wählen sollte, aber gegen den Elfmeter kurz vor Schluss war er machtlos. Trotz des verpassten Sieges blieb ein Fazit, das wohl auch Jogi Löw in irgendeinem fernen Exil unterstreichen würde: Flicks Deutschland ist auf Topniveau noch nicht konstant und nicht stabil, aber in ihren guten Momenten zeigt die Elf bereits, was in ein paar Monaten möglich sein könnte.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: