Als Horst Hrubesch von der Kälte des ersten Dezemberabends in die beheizten Innenräume des Rostocker Ostseestadions kam, wirkte es, als habe der Umgebungswechsel seine Gedanken und Gefühle angeregt. Auf dem Rasen hatte der Interims-Bundestrainer vor allem den Fußball analysiert, den er vom deutschen Nationalteam gesehen hatte. Er lobte seine Spielerinnen am TV-Mikrofon, mehr Tore hätten es sein können, klar, aber sie hätten beim 3:0 im Nations-League-Gruppenspiel gegen Dänemark "von der ersten Minute an so gespielt, wie wir es wollten. Das haben sie perfekt umgesetzt." Als er dann im schwarzen Rollkragenpullover auf der Pressekonferenz saß, formulierte der 72-Jährige quasi eine Liebeserklärung.
"Einstellung, Wille, Glaube - sensationell", sagte Hrubesch. Er, der als Spieler, Trainer und Funktionär schon so viel erlebt hat in diesem Sport, wirkte sichtlich gerührt. Die gängige Interpretation der vergangenen Wochen geht ja so: Erfahrener Trainer hilft verunsichertem Team aus der Krise und bewahrt es vor einem sportlich völlig verpatzten Jahr (wobei das noch nicht ganz feststeht).
Aber es gibt eben auch noch eine andere Sichtweise und die trug am Freitagabend Hrubesch vor. Dass nämlich vielmehr er es sei, sich bedanken müsse angesichts dessen, was ihm dieses Team zurückgegeben habe. "Die stehen wirklich zueinander. Das fasziniert mich immer wieder, sie nehmen den alten Mann auch mit", sagte Hrubesch. "Ich sehe das nicht als normal an und kann eigentlich den Mädels und dem Staff nur ein Kompliment machen, wie sie mich aufgenommen haben und wie das im Moment funktioniert."
Im Prinzip war es die Fortsetzung einer in Worte gehüllten Umarmung aus dem Oktober. Schon als Hrubesch vorgestellt wurde, geriet er ins Schwärmen über jenes Team, das er bereits 2018 für ein paar Monate übernommen hatte. "Ich habe die Mannschaft einfach lieben gelernt", sagte er. "Was ich da gekriegt habe, was ich mitnehmen konnte, war schon sensationell gut. Auch für mein Leben." Damals dürfte die Wiedersehensfreude überwogen haben, nun war es die große Erleichterung. Dank eines energischen Auftritts mit Treffern von Alexandra Popp (14. Minute), Marina Hegering (25.) und Klara Bühl (90.+3) ist die Qualifikation für die Sommerspiele in Paris 2024 weiterhin möglich. Als Gruppenerste vor den punktgleichen Däninnen könnten die DFB-Frauen mit einem Sieg in Wales diesen Dienstag (19.30 Uhr, sportschau.de) beim Finalturnier der Nations League im Februar um eines von zwei europäischen Olympia-Tickets kämpfen.
"Jede Spielerin hat ein Lachen auf den Lippen", sagt Verteidigerin Giulia Gwinn
Gewinnen müssen und dann auch gewinnen können, noch dazu mit dem erforderlichen Ergebnis: Vor vier Monaten war der Umgang der DFB-Frauen mit einer solchen Drucksituation ganz anders. Und vielleicht kam dieser Gedanke manch einer in den Kopf und schwang bei der Genugtuung über dieses 3:0 mit: Bei der Weltmeisterschaft im Sommer konnten die Deutschen nur mit einem Sieg gegen Südkorea sicher das Achtelfinale erreichen. Sie waren klarer Favorit - und als solcher erschreckend überfordert und verunsichert aufgetreten. Am Ende stand ein Remis, was wegen des Parallelspiels nicht reichte.
Das historisch frühe Aus hätte für eine ausgemachte Krise schon genügt, bekanntermaßen folgten danach mit der Krankschreibung der damaligen Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg, ihren umstrittenen Auftritten während eines Erholungsurlaubs und der Trennung Anfang November noch turbulente Wochen. In diesen wilden Seegang brachte Hrubesch als Kapitän mit den Co-Trainern Thomas Nörenberg und Britta Carlson wieder Ruhe rein. Vor allem ein ehrlicher und direkter Umgang miteinander hat Blockaden gelöst. "Jede Spielerin hat ein Lachen auf den Lippen. Wir können als Kollektiv auf dem Platz sehr viel bewirken. Momentan spüre ich keine Zweifel", sagte Bayern Münchens Giulia Gwinn. Daran habe Hrubesch großen Anteil: "Es wird sich wieder auf die Basics besonnen. Es kommt nicht zu viel Input, sondern wir bleiben einfach bei uns."
Der pragmatische Ansatz des Europameisters von 1980 hat vom ersten Tag verfangen. Das Nationalteam wirkt befreit - auch wenn spielerisch noch immer ein Weg zurückzulegen ist, bis wieder davon gesprochen werden kann, international auch gegen die Besten mithalten zu können. Gegen das zu harmlos auftretende Dänemark erinnerte eine Reihe von vergebenen Chancen daran. Popp erklärte, Hrubesch halte alle für wichtig, "und das macht dann das Gefüge wieder so zusammen".
Im Mittelfeld setzte er zunächst wie gewohnt auf Routinier Sara Däbritz, in Abwesenheit der angeschlagenen Lena Oberdorf kam dann jedoch die von Eintracht Frankfurt zum FC Chelsea gewechselte Sjoeke Nüsken statt Lina Magull dazu. Sydney Lohmann begann weiter vorne, half aber im Zentrum ebenso mit. Dass ab der zweiten Hälfte Elisa Senß (für Däbritz) bei ihrem Länderspieldebüt überzeugte, wurde zum weiteren Beleg des gesundeten Gemütszustand dieser Equipe. Die Leverkusenerin war Hrubesch kürzlich im Pokalspiel beim Hamburger SV aufgefallen und trug nun zur überzeugenden Leistung des Mittelfelds bei, sodass Hrubesch offen sagte: "An denen vorbeizukommen, da werden sich einige strecken müssen."
In dieser Verfassung sind auch die Aussichten auf das Finalturnier der Nations League sehr viel besser. Zumal die Konkurrenz Probleme hat: Weltmeister Spanien, allerdings wie Frankreich bereits sicher weiter, verlor 2:3 gegen Italien. Schweden wird nach der Niederlage gegen die Schweiz erstmals Olympia verpassen. Europameister England steht punktgleich mit den Niederlanden auf Rang zwei in Gruppe A1 und muss um die Teilnahme bangen.
Es sei großartig, "was Horst hier vollbracht hat mit seinem Trainerteam: Man sieht, die Mannschaft hat eine ganz andere Körpersprache, sie brennt, sie läuft für den Trainer", sagte Andreas Rettig in Rostock. Womöglich kann der DFB-Geschäftsführer bald zwei Erfolge feiern: Wer die für die Frauen verantwortlichen Direktorenstelle besetzt, soll bald verkündet werden. Dem Vernehmen nach fiel die Wahl auf Nia Künzer, Weltmeisterin von 2003. Ihre drängendste Aufgabe wird die Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger von Hrubesch sein. Wobei, so dringend wirkt diese Angelegenheit gerade gar nicht mehr.