Deutsche Teams im Europapokal:Bremse lösen, Sakko prüfen, Handballer fragen

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Torschütze gegen Zenit St. Petersburg: Dortmunds Lukas Piszczek. (Foto: REUTERS)

Alle sechs deutschen Klubs haben die Vorrunde im Europacup überstanden. Alles gut also? Fast. Die SZ sucht noch ein paar Mängel - und findet sie.

Von Javier Cáceres, Klaus Hoeltzenbein, Christof Kneer, Freddie Röckenhaus und Philipp Selldorf

Vor genau drei Jahren war der deutsche Fußball am Ende. Im Dezember 2017 hätten die Verantwortlichen am liebsten das Internet abgeschaltet, um diese Schreckensbilanz ja nicht hinausdringen zu lassen in die Welt. Borussia Dortmund: als bis dahin schlechtester deutscher Teilnehmer in der Champions-League-Geschichte in der Vorrunde ausgeschieden, unter anderem nach zweimal 1:1 gegen Apoel Nikosia (Zypern). Hertha BSC und die TSG Hoffenheim? Als bis dahin schlechteste Bundesliga-Vereine in der Europa-League-Geschichte ausgeschieden - ebenso wie der 1.FC Köln und der SC Freiburg, Letzterer sogar in der Qualifikation. Selbst der FC Bayern, der in der Champions-League-Vorrunde natürlich weiterkam, hatte eine sagenhafte Pleite in Paris erlebt, die den Trainer Carlo Ancelotti das Amt kostete.

Drei Jahre später - also jetzt - ist der deutsche Fußball ganz oben. Die Welt soll das unbedingt erfahren: Vier Klubs, Bayern München, Borussia Dortmund, RB Leipzig und Borussia Mönchengladbach, qualifizierten sich allesamt fürs Achtelfinale der Champions League, das gab es zuletzt 2014, als Deutschland ein frisches Weltmeisterland war. Und auch in der untergeordneten Europa League sind die TSG Hoffenheim und Bayer Leverkusen mit lässigen 4:1- und 4:0-Abschlusssiegen als Tabellenführer in die nächste Runde eingezogen.

Ist der deutsche Vereinsfußball jetzt also "auf Jahre hinaus unschlagbar", wie Franz Beckenbauer einst über die Nationalmannschaft sagte? Die Geschichte lehrt, dass im Erfolg die herrlichsten Fehler begangen werden, deshalb hat sich die Süddeutsche Zeitung auf Fehlersuche begeben - selbstverständlich nicht, weil missgünstige Reporter immer das Haar in der Suppe suchen, sondern natürlich nur zum Wohle des deutschen Fußballs.

Welche Probleme müssen die Vereine in den Griff bekommen, um auch in den Knockout-Runden eine tadellose Bilanz zu hinzubekommen? Hier eine exklusive Mängelliste, die sich am Prinzip "Jammern auf hohem Niveau" orientiert.

Einen Abwehrchef suchen!

Robert Lewandowski könnte demnächst zum Weltfußballer gewählt werden, und diese Wahl wäre höchstens deshalb etwas umstritten, weil man natürlich auch Manuel Neuer nehmen könnte. Und was die nächsten Jahre anbelangt, können sich alle ernannten oder auch selbsternannten Kandidaten schon mal darauf einstellen, dass sie auf dem Weg zu diesem Titel erst mal an Joshua Kimmich vorbeimüssen, der ja diese unnachahmliche Fähigkeit hat: die Dinge auf seine Seite zu zwingen. Ob Kingsley Coman auch mal ein Kandidat wird oder, quasi als Anerkennung fürs Lebenswerk, der Thomas Müller? Was man auf jeden Fall tadeln muss: Dass es keine Wahl zur besten Achse der Welt gibt, diese Trophäe hätten der FC Bayern sicher. Es wäre die Trophäe, die Hansi Flick, dem Bayern-Trainer, am besten gefallen würde.

Als Flick im November 2019 die Bayern übernahm, hat er als Erstes eine strapazierfähige Achse geschmiedet, sie ging einmal quer von hinten bis nach vorne durch, von Neuer über Alaba und Kimmich bis zu Müller und Lewandowski. Flick ist überzeugt davon, dass große Titel auf großen Achsen wachsen, und er ahnt, dass das in der Rückrunde seine größte Aufgabe werden dürfte: in die aktuelle Leerstelle zwischen Neuer und Kimmich wieder ein tragendes Teil einzufügen.

Die Bayern müssen im Moment ja mit einer Situation leben, die sie am liebsten per Vereinssatzung verbieten würden: Sie müssen auf Spieler vertrauen, die nur noch bis kommenden Sommer unter Vertrag stehen. Eine Konstellation, die traditionell Unruhe verspricht: Prüfen die Berater öffentlich den Markt? Was machen mögliche Schlagzeilen mit der Mannschaft? Ist der Spieler noch mit dem Herzen dabei, lässt die Leistung nach? Kausale Zusammenhänge werden nie zu beweisen sein, dennoch fällt den Bayern auf, dass ihr Abwehrchef David Alaba im Moment nicht mehr so souverän spielt wie zuvor. Alabas Vertrag läuft im Sommer 2021 ebenso aus wie der seines Nebenmannes Jerome Boateng, und auch der dritte Abwehr-Achsen-Kandidat, Niklas Süle, ist nur noch bis 2022 gebunden. Kurzfristig werden die Münchner also die Vertragssituation in ihrer Abwehrmitte in den Griff bekommen müssen, langfristig immerhin fühlen sie sich gut aufgestellt: mit dem 18-jährigen Franzosen Tanguy Nianzou und dem 17-jährigen Deutsch-Engländer Bright Akwo Arrey-Mbi, der kürzlich bereits in der Champions League debütierte und dort gleich Eindruck hinterließ, weil der Reporter seinen Nachnamen wie "R&B" aussprach.

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Bitte Handbremse lösen!

Erster zu werden ist auch nicht mehr das, was es mal war. Borussia Dortmund zum Beispiel könnte zur Belohnung für den Gruppensieg im Achtelfinale nun Atlético Madrid oder den FC Barcelona zugelost bekommen. Oder, wenn es besser läuft, vielleicht nur solche Kaliber wie Sevilla oder Porto. Bis zum Duell, bis Mitte Februar, sollten Erling Haalands Muskelfasern besser wieder geflickt sein, denn ohne den 20 Jahre jungen Stürmer sieht der BVB erstaunlich alt aus. Haaland traf sechsmal in nur vier Champions-League-Spielen, häufiger als Ronaldo, Messi, Immobile oder Lewandowski. Er hätte gerne noch häufiger getroffen, aber man kann nicht alles haben unter Lucien Favre. Haaland hat sich offenbar sogar bei seinem illustren Berater Mino Raiola ausgeweint, dass der Trainer ihn manchmal gegen Spielende auswechsele, was ihn an weiteren Toren hindere. "Er war wütend", berichtete Raiola, wenn auch mit einem Schmunzeln.

Souverän ist Dortmund nicht gerade durch die eher mittelschwere Gruppe gekommen, trotz des norwegischen Nachwuchs-Hünen. Der Gruppenzweite, Lazio Rom, war im direkten Vergleich besser. Drei Halbzeiten lang gegen Lazio, zwei gegen St. Petersburg, verschwanden all die jungen Wilden des BVB mal wieder in Favres rätselhafter Sedativ-Taktik. Mag sein, dass auch Real Madrid mal schwächelt, aber Dortmund spielte in der Gruppe nur selten wie eine Spitzenelf auf, sondern eher mit angezogener Handbremse. Haaland aber will losgelassen und nicht per taktischer Anweisung vom Toreschießen abgehalten werden. Zweimal war für Favre mit dem BVB im Achtelfinale Schluss. Mal sehen, ob der Trainer bei seinen Hochbegabten dieses Mal die Bremse löst.

Das richtige Sakko wählen!

Über Geschmack lässt sich an allen Fronten streiten, im Fußball, in der Kunst, der Musik, im Leben, auch in der Mode. Letzteres zum Beispiel bei der Frage, ob RB-Leipzig-Trainer Julian Nagelsmann das berühmte Adagio des italienischen Designers Giorgio Armani über die Eleganz erfüllte, als er in Lissabon beim Champions-League-Halbfinale (gegen Paris Saint-Germain) und in Old Trafford beim Königsklassen-Gruppenspiel (bei Manchester United) in Anzügen in die Arena sprang, die an Torero-Kostüme erinnerten, die im Spanischen nicht grundlos traje de luces heißen, wörtlich: Lichter-Anzüge. Was Armani gesagt hatte? "Bei der Eleganz geht es nicht darum, aufzufallen. Sondern darum, in Erinnerung zu bleiben."

Julian Nagelsmann beim Auswärtsspiel in Manchester. (Foto: REUTERS)

In Erinnerung blieb Nagelsmann. Doch so eine Kleidung berührt auch Fragen der nonverbalen Kommunikation. Signalisierte Nagelsmann seinem Team, dass es nicht nur um Champions-League-Siege ging, sondern auch um ihn persönlich? Wollte er die Scheinwerfer auf sich gerichtet wissen? Nimmt er damit nicht der Expansion der Persönlichkeit seiner Spieler den notwendigen Raum? "Nein!", widerspricht Stefano Tirelli, Sportpsychologe und einst Mentalcoach von Weltklassespielern wie David Beckham, John Terry oder Alessandro Del Piero und heute Dozent an der Università Cattòlica in Mailand, am Telefon. Die Kleidung sei "ein Spiegel des Verstandes Nagelsmanns", den er einen "mutigen, unabhängigen, kreativen, experimentierfreudigen, originellen, angstfreien Trainer mit einer starken Persönlichkeit" nennt. "Er hat keine Scheu. Weder wenn er in einem Spiel Systeme umwirft noch beim Griff in den Kleiderschrank." Allein: Leipzig verlor an den Tagen, da Nagelsmann die größte "Extravaganza" an den Tag legte. Der Ratschlag daher: Vorsicht beim Griff zum Sakko!

Niemals wegdrehen!

Bei Borussia Mönchengladbach sollten sie schnellstens mal einen Handballer oder Volleyballer als Gastdozenten einladen. Warum? Handballer oder Volleyballer wissen so einiges, was Fußballern nützlich sein könnte. Wer das schon früh begriffen hat, war Manuel Neuer, der vor Jahren den Weltmeistertorwart der Handballer, Johannes Bitter, zu Rate zog. Er wollte zum Beispiel lernen, wie man den Hampelmann macht oder sich quer ins Tor legt wie ein Balken, damit einem niemand den Ball durch die Beine schießt. So ein interdisziplinärer Seitenblick könnte den Gladbachern helfen, das machten die Niederlagen gegen Inter Mailand (2:3) und bei Real Madrid (0:2) deutlich. In denen wäre um ein Haar alles verspielt worden, was die Borussia sich besonders durch das 10:0 gegen Schachtjor Donzek (6:0 und 4:0) erarbeitet hatte.

Warum wurde es so knapp? Weil die Borussen ein fundamentales Problem haben: Sie blocken die Bälle des Gegners nicht, diese fliegen dann ungebremst in den Strafraum. Beispiel Madrid, 9. Minute: Flanke von rechts, Kopfball Benzema, 0:1. Madrid, 32. Minute: Flanke von rechts, Kopfball Benzema, 0:2. Einmal drehte sich Oscar Wendt, einmal Nico Elvedi vor der Flanke weg. Hand- und Volleyballer hingegen wissen, was hier helfen könnte: Nie frontal den Mann decken, sondern seitlich versetzt den Wurf- oder Schlagarm (für Fußballer: das Schussbein)! Niemals wegdrehen! Immerzu den Ball fixieren!

In der Abwehr, besonders auf der linken Seite, fehlen der Borussia diese Basics. Das weiß sogar die Gazzetta dello Sport, die in Madrid einen fragilen Gegner sah, "mit einer Abwehr wie Krippenfiguren, die schon für Weihnachten bereitstehen". Bis zum Achtelfinale wird Marco Rose seine Figuren neu aufstellen müssen. Dem Trainer steht der hochwertigste Gladbacher Kader zur Verfügung, seit Hennes Weisweiler in den Siebzigerjahren die Fohlen durch Europas Arenen galoppieren ließ. Damals wie heute berauschen sich die Borussen gerne an sich selbst. Dann kann zwar jedes ihrer Tore ein Tor des Monats sein. Aber vorne verpassen sie die vermeintlich leichten Treffer. Und hinten lassen sie die leichten zu.

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Immer weiterspielen!

Ob Bayer Leverkusen endlich zu sich selbst gefunden oder aber sein altes Ich verloren hat, ist eine Frage der Betrachtung. Seit Jahrzehnten unterhält der Klub exzellent besetzte Teams, die allesamt durch eine ungute Gemeinsamkeit verbunden blieben: Irgendwann nahmen sie, gern in Spitzenspielen, ihre Pausen. Jetzt jedoch steht eine Mannschaft auf dem Platz, die gute Resultate im Akkord produziert. Von 17 Pflichtspielen seit Saisonstart ging trotz etlicher Verletzter lediglich eins verloren. Während bei der ebenfalls vielbeschäftigten Konkurrenz über die hohe Einsatzbelastung diskutiert wird, hat Peter Bosz ein Prinzip gesetzt, das er von Donald Trump abgeschaut haben könnte. Dieser hat ja angeblich seine Corona-Erkrankung bezwungen, indem er sich selbst befahl, dem Virus die Vorherrschaft zu versagen. Bosz hingegen gab Order, nicht über die vielen Spiele zu reden, dann werde auch niemand müde. So ähneln die Bayer-Profis den Pinguinen im Zoo: Diese setzen sich magisch in Bewegung, wenn der Pfleger mit dem Eimer voller Heringe kommt. Sie laufen los, sobald der Schiedsrichter mit dem Ball unterm Arm aufs Feld geht. Daher sieht sich Leverkusen im neuen Jahr einer gewaltigen Herausforderung ausgesetzt - es besteht die Gefahr der Unterbelastung. Zwar geht es gleich nach Neujahr in der Bundesliga weiter, doch statt englischer Wochen mit Europacup und Länderspielen folgen bloß deutsche Wochen mit schrecklich viel Freizeit zwischen den Spieltagen. Bosz sollte die Klubleitung drängen, bis zum Neustart der Europa League im Februar irgendein Turnier zu organisieren, damit seiner Elf der Drei-Tage-Rhythmus erhalten bleibt.

Nicht anstecken!

Die Frage ist ja, was schneller geht. Soll man lieber die Spieler der TSG Hoffenheim aufschreiben, die schon Corona hatten, oder jene, die es noch nicht hatten? Der Kader ist groß, deshalb an dieser Stelle lieber die, die bereits erkrankt waren: Andrej Kramaric, Kasim Adams, Kevin Vogt, Sebastian Rudy, Ishak Belfodil, Robert Skov, Munas Dabbur, Jacob Bruun Larsen, Sargis Adamyan. Die ersten beiden brachten das Virus offenbar von den Länderspielreisen im Oktober mit, ein paar der anderen infizierten sich bei den Länderspielen im November, einige Ansteckungswege blieben aber auch unerforscht. Die TSG war die Corona-Mannschaft der Hinrunde und hat sich als solche tapfer geschlagen, und deshalb reisen die Hoffenheim nun am Sonntag zumindest mit stabiler mentaler Gesundheit zum Duell der Europa-League-Klubs nach Leverkusen - zur "Mannschaft der Stunde", wie Hoffenheims Trainer Sebastian Hoeneß sagt.

Bleiben Sie gesund!

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