Serie Traumreisen: Syrien:Beim Onkel des Onkels

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Palmyra war zwar schon eine Ruine, als unser Autor dort war. Aber die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats machten selbst vor Ruinen nicht halt und sprengten den Baaltempel und den ikonischen Torbogen. (Foto: Moritz Baumstieger)

Manche Reisen mögen vorübergehend nicht möglich sein. Andere sind für immer unmöglich geworden - so wie diese. Denn das Syrien, das der Autor erlebt hat, gibt es nicht mehr.

Von Moritz Baumstieger

Ausgestopfter Storch oder heiliges Holz. Eines von beiden musste nun wohl oder übel in den ohnehin schon vollgestopften VW-Bus. Abschiedsgeschenke lassen sich grundsätzlich nur sehr schwer ablehnen. Doch wenn die Schenkenden ebenso grundsätzlich dazu bereit sind, ihren Willen mit rabiaten Mitteln durchzusetzen, dann ist es mit dem Neinsagen noch schwieriger.

Dass unsere Gastgeber ihre Anliegen nicht immer nur verbal vortragen, hatten wir am Vortag gelernt: Als wir unseren VW-Bus auf einem Feldweg knapp unter der Kuppe eines Hügels parkten, den Blick auf die syrische Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers für gut befanden und deshalb den Campingtisch aufklappten, fanden das die Bewohner des nächstgelegenen Hofs nicht so toll. Ihr Haus war etwas mehr als einen Steinwurf von unserem Stellplatz entfernt. Diese Entfernungsangabe wird oft leichtfertig verwendet, in dem Fall jedoch nach bestem Wissen: Während die Mutter des Hauses und ihre Töchter zornige Rufe in unsere Richtung sandten, schleuderte der älteste Sohn der Familie scharfkantige Kalkbrocken. Er war ein guter Werfer, sie klatschten nur wenig vor unserem Campingtisch auf den staubigen Boden.

Die Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers ist seit 2006 Unesco-Weltkulturerbe. Sie steht etwa 30 Kilometer westlich von Homs am Rande des Gebirgszuges Dschebel Khalil. (Foto: imago stock&people/imago/Leemage)

Wildcampen in Syrien - neben Kreuzfahrerburgen oder mitten auf der säulengesäumten Hauptstraße der Grabungsstätte Apameia, im grünen Wadi Barada bei Damaskus: Manche Reisen mögen vorübergehend nicht mehr möglich sein, weil ein Virus die Welt auf Abstand hält. Andere Reisen, wie diese aus dem Jahr 2008, sind hingegen für immer unmöglich geworden, lassen sich nur noch in Erinnerungen nachfahren. Weil es das Land nicht mehr gibt, in das sie führten. Und weil auch die Welt drumherum eine andere geworden ist.

Der sogenannte Islamische Staat verschonte nicht einmal Ruinen

Das Land, in das uns der alte VW-Bus zu führen vermochte, der vor seiner Zweitkarriere als Reisemobil 18 Jahre lang Arbeiter der Bahn zu Baustellen transportiert hatte, ist untergegangen: Die Dörfer, in denen der Bus von Kindern umringt war, sobald er zum Stehen kam, sind heute teils entvölkert. Städte wie Aleppo, Hama, Homs, in deren chaotischem Verkehr er so unerschrocken mitschwamm, hat der Mann mit dem Schnauzbärtchen und dem fliehenden Kinn, der schon damals etwas linkisch von ungezählten Plakaten, Bannern, Bildern und Heckscheiben grüßte, zur Sicherung seiner Macht in weiten Teilen zu Schutt bomben lassen.

Und selbst jene Orte, die schon lange Ruinen waren, blieben nicht verschont: Die Wahnsinnigen des sogenannten Islamischen Staats erkannten zielsicher, dass die Schändung von alten Steinen den Westen nachhaltiger schockiert als jedes Video, in dem Menschen gefoltert oder enthauptet werden - und sprengten den Baaltempel und den ikonischen Torbogen von Palmyra. An der Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers, deren Mauern 1188 den Angriffen Saladins standhielten, richteten Granatenbeschuss und Luftangriffe schwere Schäden an, als Assads Armee 825 Jahre später hier verschanzte Aufständische vertrieb.

Wer würde sich heute noch darauf einlassen, ohne fixe Route durch den Nahen Osten zu fahren?

Doch nicht nur der syrische Volksaufstand, der bald in einen Bürgerkrieg abglitt, hat dazu geführt, dass diese Reise nur noch geträumt werden kann. Eine andere, unblutige Revolution macht jede Wiederholung unmöglich: die technische. Wer würde heute einen alten Bus mit nur 58 PS wahllos steile Straßen auf Suche nach guter Aussicht hinauftreten, wenn ihm die Karten-App auf dem Smartphone gleich die vielversprechendste Strecke anzeigt? Wer würde sich selbst einen Stellplatz suchen, anstatt GPS und Geodaten zu einem Parkplatz zu folgen, den irgendeine Camper-Community mit fünf Sternen bewertet hat, "schön, sauber, sicher"? Und wer, für den alle Warnungen der Weltreise-Foren nur wenige Klicks entfernt sind, würde sich mit der Naivität des Unwissenden überhaupt darauf einlassen, ohne festen Plan und fixe Route durch den Nahen Osten zu stromern?

Wohl keiner. Wer auf Reisen überhaupt Kontakt mit nichtkellnernden Einheimischen zulassen will, der sucht heute bei Airbnb wohl lieber einen "authentic homestay", als sich auf einem Acker mit Steinen beschmeißen zu lassen. Oder er hätte dank seines auf Wikipedia angelesenen Wissens zumindest geahnt, dass die Stimmung in den Dörfern rund um die syrische Kreuzfahrerburg als recht angespannt gelten darf: In einigen leben Christen, in anderen Muslime, in manchen beide. Das Gebirge, aus dem die Minderheit der Alawiten stammt, ist in Sichtweite. In einer Ecke, in der verschiedene Glaubensgruppen teils erbittert um jeden Zehntel Hektar streiten, wird es nicht allzu gern gesehen, wenn Fremde sich auf Feldern häuslich einrichten.

In so einem VW-Bus ist zwar viel Platz, trotzdem passt nicht jedes Gastgeschenk hinein. (Foto: Jan Jacobsen)

Doch die Situation entspannte sich. Um wirklich nur noch einen Steinwurf von seinem Ziel entfernt zu sein, kam der älteste Sohn der Familie etwas näher. Und konnte deshalb nun auch das Nummernschild erkennen: ein deutsches, kein syrisches. Das schien ihn nun doch ein wenig zu interessieren, er kam noch näher, die Steine glücklicherweise in der Hand behaltend. Er erkannte, dass wir keine Eindringlinge aus dem Nachbardorf sind, sondern von viel weiter herkommen. Und schloss angesichts der bereits für den Sonnenuntergang bereitstehenden Flasche Arak auf dem Campingtisch, dass er es wohl mit christlichen Glaubensbrüdern zu tun haben müsse. Die Steine plumpsten auf den Acker, die nun freie Hand streckte sich uns zur Begrüßung entgegen.

Zum Anisschnaps Arak gibt es für gewöhnlich Nüsse, auch Salz und Chilis, alles, was ausreichend Durst macht. (Foto: Picasa; Preacher lad/Wiki Commons (CC BY 4.0))

Die folgende Nacht blieb der VW-Bus leer - seine Insassen nahmen auf der von Weinreben überrankten Terrasse des Hauses Platz. Die Mutter tischte einen Mix aus Walnüssen, Salz und Chilis auf, der ausreichend Durst machte, um nach der als Gastgeschenk dargebrachten Flasche Arak auch noch eine zweite aus Beständen der Gastgeber zu leeren. Als das erledigt war und das mangels Sprachkenntnissen auf beiden Seiten ohnehin stockende Gespräch versiegte, holte der älteste Sohn seine Maschine aus dem Schuppen. Während sein Gast sich bereits mit dem Gehen schwertat, behauptete er, noch gut fahren zu können. Und verwies den Besuch auf den Soziussitz.

Der Gast aus Deutschland musste hergezeigt werden. Über steil ansteigende und ebenso steil wieder abfallende Feldwege ging es erst zum einen Onkel, dann zum Onkel des Onkels. Zum Cousin und zum Cousin des Cousins. Der Cousin des Cousins des Cousins, ein Biologielehrer, bot endlich keinen weiteren Arak an, sondern holte ein anderes Geschenk für den Gast von der Vitrine: einen Storch.

Das arme Tier war wohl wie wir von Europa aus kommend an der Kreuzfahrerburg vorbeigeflogen, wo seine große Reise endete: Es hatte keinen Steinwurf, sondern einen Schrotflintenschuss entfernt vom Haus des Cousins des Cousins des Cousins Rast gemacht. Der präparierte es mit nicht allzu viel Geschick. In seiner Aufmachung für die Ewigkeit sah der Vogel jämmerlich aus: An einigen Stellen fehlte dem Storch die Füllmasse, andere waren zu dick gepolstert. Dort, wo einst das rechte Auge war, hatten die Schrotkugeln wenig übrig gelassen.

Über steil ansteigende und ebenso steil wieder abfallende Feldwege ging es nun mit dem Motorrad zurück, vorne der älteste Sohn des Hauses, auf dem Sozius Kalif Storch, dahinter der Gast. Unter den Weinreben auf der Terrasse saß da bereits niemand mehr, das Zirpen der Grillen überlagerte sich mit dem Schnarchen der übrigen Gastgeber und Gäste.

Der Vogel kam in eine Vitrine. Aber das hatte seinen Preis

Der Versuch, das ausgestopfte Tier am nächsten Morgen zu einem unabkömmlichen Lehrmittel für den Unterricht des Cousins des Cousins des Cousins zu erklären und somit die Rückführung des Storches in den Besitz des Biologielehrers anzuregen, scheiterte schon an der Sprachbarriere. Nach länglichen Verhandlungen erklärte sich der Sohn der Familie jedoch bereit, den Zugvogel von nun an auf seine eigene Vitrine zu stellen, wenn wir im Gegenzug eine andere Kleinigkeit annehmen würden. In der morgendlichen, durch den Arak bedingten Übelkeit schien das ein guter Handel zu sein.

Doch die Wahl des jungen Mannes fiel auf keine Kleinigkeit, sondern auf das Exponat, das bisher den Ehrenplatz auf der Vitrine innehatte: ein Stück poliertes Holz, sicher doppelt so dick und doppelt so schwer wie eine Heilige Schrift inklusive der ganzen nicht kanonisierten Evangelien, die all die Erleuchteten aus dieser an Visionären nicht armen Weltgegend irgendwann einmal zu Papier gebracht haben. In das Holz waren zwei Kreuze eingebrannt, zwischen ihnen ein leicht zerkratztes Bild der Mutter Gottes. "Very holy", sagte der älteste Sohn der Familie. "Very holy. Will protect you."

Ganz sicher hat das heilige Holz den Bus und seine Insassen beschützt

Weil sonst wirklich nirgendwo mehr Platz im Bus war, fuhr das nicht abzulehnende Geschenk den ersten Tag auf dem Schoß des Beifahrers mit. Irgendwann später landete es in dem kleinen Freiraum, der sich bei alten VW-Bus-Modellen unter dem Fahrersitz auftut und in dem sich eigentlich ein Verbandskasten hätte befinden sollen. Dort rumpelte das heilige Holz nach vorne, wenn der VW-Bus scharf bremsen musste. Und trug sicher dazu bei, dass das nicht vorhandene Verbandszeug nie benötigt wurde. Das Auto kam trotz abgefahrener Reifen und Bremsen stets rechtzeitig zum Stehen.

So ein Geschenk kann man unmöglich ablehnen. Schon gar nicht, wenn das Bild der Mutter Gottes mit den guten Wünschen der Gastgeber verbunden ist. (Foto: Moritz Baumstieger)

Während die Reise des Storchs also für immer an der Kreuzfahrerburg enden sollte, besuchte das heilige Holz in der Folge die mindestens acht Orte, die für sich reklamierten, ganz sicher und ohne Zweifel das Haupt von Johannes dem Täufer zu beherbergen. Das heilige Holz kam mit in die Wüstenstadt Palmyra, in der der Zauber der alten Ruinen im Vollmondschein nicht durch das auf Wikipedia nachlesbare Wissen getrübt wurde, dass sich nur einen Kilometer weiter das berüchtigte Tadmur-Gefängnis befand, in dem die Assads ihre Gegner foltern und verrecken ließen.

Und als dann doch einmal etwas am alten VW-Bus kaputtging - unmittelbar vor der Umayyaden-Moschee von Damaskus, in der natürlich auch das einzig wahre und echte Haupt von Johannes dem Täufer aufbewahrt wird, verlor er den Auspuff - da sorgte das heilige Holz dafür, dass ein freundlicher Taxifahrer vorbeikam. Er fuhr voraus, in ein über die Jahre zu einer kleinen Stadt mit engen Gassen mutiertes Lager palästinensischer Flüchtlinge.

Von Jarmuk - so hieß der Ort - steht heute fast nichts mehr. Von 2015 bis 2018 herrschten hier verschiedene islamistische Rebellengruppen, zuletzt der sogenannte Islamische Staat, dann ebneten syrische und russische Kampfjets die Gegend ein. Während Freunde des Taxifahrers den Auspuff damals anschweißten und natürlich nichts dafür verlangten, lud er die Fremden zum Tee ein. Und fragte am Ende: Backgammon-Brett oder Schafsfell? Als Abschiedsgeschenk! Eines von beiden müsst ihr unbedingt mitnehmen!

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