Schweizer Alpen:Schnell durch die Nordwand

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Ziel der Sehnsüchte vieler Schweiz-Urlauber: das Jungfraujoch neben dem Mönch. Mit der neuen Bahn kommt man in nur 45 Minuten von Grindelwald bis auf 3454 Meter. (Foto: David Birri/Jungfraubahnen)

Das Jungfraujoch gehört zu den beliebtesten Reisezielen der Schweiz. Neue Bahnen bringen nun im Eiltempo nach oben. Alles nur für das schnelle Selfie oder die Zukunft des Bergtourismus?

Von Isabel Pfaff, Grindelwald

Ein sanfter Ruck, dann schwebt die Gondel in den Nebel hinauf. Wobei schweben es nicht ganz trifft: Eigentlich rast sie, in 15 Minuten legt die Kabine sechseinhalb Kilometer und knapp 1400 Höhenmeter zurück. Spätestens der heftige Druck auf den Ohren macht klar, wie schnell der neu eröffnete Eiger Express seine Passagiere hinauf auf den Gletscher zieht.

"Flachländer", murmelt Urs Kessler und grinst. Der 59-Jährige hat sich auf einen der gut zwei Dutzend Plätze in der Kabine gesetzt, rote Jacke, aufgestellte graue Haare, zufriedener Blick. "Merken Sie's? Sitzheizung!" Dann blickt er aus den großen Fenstern. "Noch nie haben Sie die Eigernordwand aus dieser Nähe gesehen, stimmt's?" Zuerst sind da nur dicke Nebelbänke, dann endlich gibt der Dunst den Blick auf die wohl berühmteste Bergflanke der Welt frei: schroffes, gewaltiges Gestein, das so steil in den grauen Himmel ragt, dass kaum Schnee darauf liegen bleibt.

Das Projekt kostete 470 Millionen Franken. Die Widerstände dagegen waren groß

Urs Kessler sitzt praktisch in seinem Lebenswerk. Seit 2008 ist er Chef der Jungfraubahnen, dem größten Bergbahnunternehmen der Schweiz. 2009 fing Kessler an, über die Zukunft seiner Bahnen nachzudenken, entwarf erste Pläne, ließ sie wieder fallen, schmiedete neue. Am Ende entschied sich das Unternehmen für eine groß angelegte Rundumerneuerung - und vor allem für eine neue Seilbahn, den Eiger Express. Insgesamt kostete das Projekt 470 Millionen Franken. Alles für "Qualität und Zukunft für die nächsten 50 Jahre", wie Urs Kessler mantrahaft betont. Er scheint es während der vergangenen zwölf Jahre gebraucht zu haben. Denn die Widerstände gegen das Projekt waren groß.

Der neue Eiger Express fährt direkt an der Eigernordwand vorbei. Zu nah für manche Landschaftsschützer. (Foto: David Birri/Jungfraubahnen)

"Projekt V-Bahn" heißt das, was da in Grindelwald passiert ist, ganz bescheiden. Denn die Jungfraubahnen-Gruppe hat nicht nur die neue Dreiseilumlaufbahn zwischen Grindelwald und Eigergletscher gebaut, sondern auch die bereits bestehende Gondelbahn vom Dorf auf den Männlichen erneuert. Die Männlichen-Bahn und der Eiger Express starten beide an einem neuen "Terminal" und bilden von dort die beiden Schenkel eines V. Zudem sind eine neue Bahnhaltestelle und ein neues Parkhaus entstanden, von denen aus man zu Fuß ins Terminal und zu den Bahnen gelangt. Am 5. Dezember 2020 wurde der Komplex eröffnet. Er soll die Touristenmassen besser verteilen und vor allem: schneller in die Berge bringen.

47 Minuten weniger Reisezeit, so lautet das zentrale Versprechen des Riesenprojekts. Für alle, die im Winter im Gebiet Grindelwald-Wengen Ski fahren oder im Sommer vom Eigergletscher aus wandern wollen. Und natürlich auch für die zahllosen Besucher des Jungfraujochs: Die weltberühmte Verbindung zwischen den beiden Viertausendern Mönch und Jungfrau, erfolgreich vermarktet als "Top of Europe", gehört zu den beliebtesten Reisezielen der Schweiz. Vor dem Bau des Eiger Express erreichte man die Aussichtsplattform auf 3454 Metern nur mit der Zahnradbahn, die von Grindelwald bis zur Kleinen Scheidegg fährt, der Passhöhe zwischen Eiger und Lauberhorn. Dort steigen Besucher in die Jungfraubahn um, ebenfalls zahnradbetrieben, mit der man dann hoch zum Joch zuckelt. In rund eineinhalb Stunden Fahrzeit. Mit dem Eiger Express können eilige Besucher nun eine Zahnradbahn überspringen und neuerdings am Eigergletscher in die Jungfraubahn umsteigen. In insgesamt 45 Minuten.

Zählt zu den beliebtesten Panoramen der Schweiz: Besucher an der Aussichtsplattform im Sphinx-Observatorium, einer Forschungsstation, die sich auf dem Jungfraujoch befindet. (Foto: Vincent Isore/Imago)

Mehrere Hundert Millionen für knapp 50 Minuten Zeitersparnis? Was auf den ersten Blick absurd klingt, spielt für viele Touristen durchaus eine Rolle. "90 Prozent unserer Besucher kommen aus dem Ausland", sagt Urs Kessler. Genaue Zahlen zu den Nationalitäten will er nicht verraten, aber er kann nachweislich Gäste auf Chinesisch, Japanisch und in einigen anderen asiatischen Sprachen begrüßen. Dieser Markt ist der entscheidende für die Jungfraubahnen, neben Amerikanern und Indern. Und Touristen aus diesen Ländern haben in der Regel nur wenige Tage für die Schweiz eingeplant, bevor sie zu anderen europäischen Zielen aufbrechen. 47 Minuten weniger Anfahrt sind da kein unwichtiges Verkaufsargument.

Umweltschützer halten das Konzept für längst überholt

Genau da liegt jedoch für Leute wie Raimund Rodewald das Problem. "Das ist doch eine aus der Zeit gefallene Tourismusstrategie!", schimpft der Geschäftsführer der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz am Telefon. "Das Konzept Massentourismus ist überholt."

Die Stiftung gehörte zu den hartnäckigsten Gegnern des Eiger Express. Das Schlimmste aus ihrer Sicht: die Linienführung der neuen Bahn, die so nah an die Eigernordwand herankommt, dass der Anblick dieser von der Unesco geschützten Bergflanke stark beeinträchtigt werde. "Und das alles nur, damit man den Besucherstrom aus Asien halten kann", sagt Raimund Rodewald bitter, "dabei kamen auch ohne Eiger Express jedes Jahr Hunderttausende."

Tatsächlich verzeichneten die Jungfraubahnen in den vergangenen Jahren jeweils rund eine Million Besucher auf dem Joch, die meisten kamen aus Asien. Urs Kessler und seine Leute fuhren ein Rekordergebnis nach dem anderen ein, zuletzt - 2019 - war der Gewinn auf 53 Millionen Franken geklettert.

Diese Landschaft zog vor der Pandemie mehr als eine Million Besucher pro Jahr an: Vom Gipfel des Männlichen (im Vordergrund) ist der Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau besonders beeindruckend. (Foto: David Birri/Jungfrau Region)

Landschaftsschützer Rodewald ist diese "Venezianisierung des Alpenraums" ein Graus. Statt der neuen Seilbahn hätte er lieber Grenzwerte für die Touristenzahl in der Region gehabt, "damit es wieder um das Berührtwerden von der Landschaft, um Erholung geht - und nicht einfach ums schnelle Selfie".

Doch seine Stiftung kämpfte vergeblich. In den Gemeinden Grindelwald und Lauterbrunnen, wo die meisten Leute in irgendeiner Form vom Tourismus leben, stimmte jeweils eine deutliche Mehrheit für das V-Bahn-Projekt. Einzelne Gegner aus den Gemeinden, die Einsprache eingelegt hatten, zogen nach mehreren Jahren Streit ihre Einwände zurück. Manche konnte Urs Kessler mit einem Jungfraubahnen-Abo überzeugen, andere mit Zugeständnissen bei der Höchstzahl der Nachtfahrten. Nach allem, was man hört, war der Druck enorm, den die Jungfraubahnen als größter Arbeitgeber der Region aufbauten.

Am Ende verzichteten selbst die Landschaftsschützer um Raimund Rodewald auf ihre Beschwerde. Die Jungfraubahnen hatten ihnen angeboten, ein paar Masten des Eiger Express niedriger zu bauen, die Gondeln dunkelgrau statt rot zu färben und ihre Abstände zu vergrößern, wenn weniger Besucher da sind. "Mehr war einfach nicht rauszuholen", sagt Rodewald. Gut findet er den Eiger Express deswegen trotzdem nicht. Er ist überzeugt, dass die Jungfraubahnen mit ihrem Fokus auf Massentourismus aus Asien langfristig aufs falsche Pferd gesetzt haben. "Und das wird durch Corona noch viel deutlicher."

Die Pandemie hat den Touristenstrom aufs Jungfraujoch zum Erliegen gebracht

Seit vergangenem Frühling spielt es tatsächlich keine Rolle mehr, ob man dank der neuen Superseilbahn noch einen Gipfel mehr in den Schweiz-Trip packen kann oder nicht. Die Pandemie hat den gewaltigen Touristenstrom aufs Jungfraujoch zum Erliegen gebracht. Allein im ersten Halbjahr 2020 machten die Jungfraubahnen 11,5 Millionen Franken Verlust - statt, wie in den Jahren zuvor, mehr als 20 Millionen Gewinn.

So leer wie nie: Skifahrer an der Kleinen Scheidegg vor Eiger, Mönch und Jungfrau. (Foto: David Birri/Jungfrau Region)

Auch an diesem verhangenen Februartag ist wenig los im nagelneuen Grindelwalder Terminal. Von den paar Wintersportlern, die durch die flughafenähnlichen Hallen staksen, hört man vor allem Fetzen auf Schweizerdeutsch oder Französisch. Die meisten der Shops im Terminal haben zu, nur ein paar Bistros bieten Lunchpakete und Getränke zum Mitnehmen an. In den Gondeln des Eiger Express und der Männlichen-Bahn, die laut Regierungsbeschluss nur zu zwei Dritteln gefüllt werden dürfen, sitzen selten die maximal erlaubten 17 Passagiere.

"In China feiern sie gerade Neujahr", seufzt Urs Kessler in der Kabine und zeigt auf die leeren Sitzplätze. "Eigentlich wäre jetzt alles voll hier." Wäre es nicht wirklich Zeit, den Kurs zu ändern, Herr Kessler? Der Unternehmer schüttelt den Kopf. "Wir hatten im letzten Jahr 200 Prozent mehr Schweizer Gäste als sonst", sagt er. Trotzdem sind im Moment etwa 60 Prozent seiner rund 1000 Mitarbeiter in Kurzarbeit. "Allein mit Schweizern und einigen Europäern kommen wir hier nicht über die Runden."

Urs Kessler will also weiter auf die asiatischen Märkte setzen. "Wegen ein paar Turbulenzen ändern wir nicht kurzfristig unsere langfristige Strategie." Er glaubt, dass sich schon im Sommer die Lage bessern wird und die Reisegruppen aus China, Indien und den USA zurückkommen werden. Bergliebhaber, die die Massen fürchten, sollten sich also beeilen. So leer wie jetzt wird es wohl in der Jungfrauregion nicht mehr lange bleiben.

Tickets für eine Fahrt mit dem Eiger Express sind unter jungfrau.ch erhältlich. Eine Fahrt von Grindelwald Terminal bis zum Jungfraujoch (und zurück) kostet derzeit rund 175 Euro. In Kombination mit einem Tagespass für das Skigebiet Grindelwald-Wengen gibt es im Moment auch Angebote ab 92 Euro. Das Ticket für eine Fahrt mit der Gondelbahn zum Männlichen und zurück gibt es unter maennlichen.ch , es kostet knapp 60 Euro. Grundsätzlich sind in der Schweiz die Hotels zurzeit geöffnet, Restaurants haben allerdings noch bis mindestens Ende Februar geschlossen. Vor Reiseantritt sollte man die Liste der Risikogebiete des Schweizer Bundesamts für Gesundheit konsultieren: Davon hängt ab, ob man nach der Einreise in die Schweiz in Quarantäne muss.

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