Reiseziele:An den Grenzen der Gastfreundschaft

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Getümmel am Strand - ab wann ist zu viel zu viel? (Foto: Mike Wilson/Unsplash.com; Bearbeitung SZ)

An besonders begehrten Urlaubsorten wird Einheimischen alles zu viel. Echt schlimm, dieser Massentourismus, denken sich originelle Individualreisende - dabei gelten sie längst selbst als Problem.

Von Irene Helmes

Leben, wo andere Urlaub machen. Ein Traum? "Einige der schönsten Gegenden der Stadt werden für Bürger unzugänglich. Sie müssen darauf verzichten, in manchen Vierteln der eigenen Stadt zu leben", sagt die Venezianerin Elisa Crepaldi. Auch der Aktivist Pere Perelló aus Palma de Mallorca zählt Probleme auf: "Gentrifizierung, Vertreibung der Menschen aus ihren Stadtteilen, Verschwinden lokaler Geschäfte - unter anderem". Der globale Tourismus wächst und mit ihm der Unmut vieler Einheimischer ausgerechnet an den Orten, auf die sich Millionen Menschen jährlich freuen.

Die Reisebranche erlebt ein Rekordjahr nach dem anderen mit klaren Trends wie Städtereisen und extremen Wachstumsraten bei einzelnen Zielen. "Noch nie war die Auslastung so komplett, die Preise so hoch und die Saison so lang", konstatierte etwa die Mallorca Zeitung Ende Juni. Im Sommer werden am Flughafen von Palma täglich bis zu 180 000 Passagiere abgefertigt. In der Hauptsaison komme auf jeden Bürger der Balearen im Schnitt ein Tourist, teilte der örtliche Tourismus-Minister Biel Barceló schon in der zurückliegenden Rekordsaison mit. Wunderbar für ein Land wie Spanien, das mit hoher Arbeitslosigkeit kämpft?

Nein, denn "eine Minderheit profitiert auf Kosten der Mehrheit", kontert zum Beispiel die Protestgruppe "Ciutat per a qui l'habita" ("Die Stadt denen, die sie bewohnen"). Sie hat sich im Oktober 2016 aus diversen Bürgerinitiativen zusammengeschlossen und kürzlich eine Art Manifest veröffentlicht. Die Stadt, die darin beschrieben wird, kann einem eigentlich nur leidtun: Normale Läden werden durch Souvenir- und Franchise-Geschäfte ersetzt, traditionelle Märkte verwandeln sich in "Entertainmentcenter für Touristen", Menschen leben "in Angst, aus Wohnung und Nachbarschaft vertrieben zu werden", man erlebe eine "Zerstörung der Insel".

Auch die Venezianerin Crepaldi stellt fest: "Die Einheimischen sind verzweifelt und immer unduldsamer gegenüber all den Touristen - auch gegenüber den gebildeten und respektvollen, die man in den Mengen gar nicht mehr von den anderen unterscheiden kann."

Das kleine Venedig gilt längst als Symbol für zerstörerischen Tourismus, wo nur noch einige Zehntausend Altstadtbewohner mit jährlich mehr als 30 Millionen Besuchern leben müssen. Aber sind normale Städte nicht groß genug für alle? Alltagserfahrung und Studien zeigen das Gegenteil: Auch in Metropolen konzentrieren sich die Besucherströme in der Regel auf bestimmte Hotspots - sowohl tagsüber als auch bei Übernachtungen. In Barcelona etwa hat sich die Zahl der jährlichen Gäste in den vergangenen drei Jahrzehnten so stark gesteigert wie in keiner anderen Stadt - auf mittlerweile 30 Millionen, die sich verlässlich auf bestimmte Viertel stürzen. Die Folge sind Demonstrationen, Protestbanner wie "Tourist go home" und die Wahl einer Bürgermeisterin, die als Aktivistin gegen unkontrollierten Massentourismus bekannt wurde.

In vielen Hafenstädten wird es vor allem während der Kreuzfahrt-Tagesausflüge extrem, in Dubrovnik etwa: Manche Experten befürchten, dass die engen, überfüllten Gassen bei einer Panik zur Todesfalle werden könnten. Zur Enge kommt nervtötendes Verhalten: "Anstand und Respekt scheint ein Großteil der Besucher vergessen zu haben", so der Eindruck von Elisa Crepaldi in Venedig, und "wer mit dem Rad durch die Gassen will, sein Auto auf dem Markusplatz parken möchte oder zum Baden in den Canal Grande springt, hat ganz offensichtlich keine Ahnung von der Stadt".

Die 27-jährige Deutsche Nora Müller lebt zeitweise in Palma und engagiert sich in "Ciutat" mit Menschen aus allen Generationen: "Wir fordern die Stadt für ihre Bewohner zurück." Dabei gehe es nicht darum, eine bestimmte Art des Tourismus zu bevorzugen, sondern darum, den Massen "ein klares Limit zu setzen". Diesem Ziel würden viele Europäer, die gerne individuell und möglichst authentisch reisen, sicherlich aus ganzem Herzen zustimmen - dabei gelten sie längst selbst als Problem. Die Zuordnung böse Pauschalurlauber, gute Individualreisende funktioniert nicht mehr.

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"Die Pauschalreisenden sind meist in ihren Hotels und Stränden, fast wie in einem Ghetto, und stören die Nachbarschaft kaum", beobachtet Nora auf Mallorca. Die wachsende Zahl an Ferienwohnungen und Boutique-Hotels dagegen habe ganz andere Auswirkungen auf das normale Leben. "Man hat als Reisender vielleicht das Gefühl, man sei etwas Besonderes in seiner kleinen Wohnung, aber auch so ist man ein Teil von Massen." Und diese verdrängen in der Stadt Wohnraum.

Solche Einschätzungen häufen sich. Die spanische Zeitung El País zitierte kürzlich in einem Text über "Tourismusphobie" den Stadtforscher Paolo Russo: Die meisten Probleme entstünden erst "durch das alltägliche Zusammenleben" zwischen Gästen und Einwohnern. Orte wie Benidorm, Lloret de Mar oder die Kanaren hätten bereits vor Jahrzehnten Zonen geschaffen, die komplett dem Tourismus gewidmet sind. Das Leben der Einheimischen finde - ungestört - anderswo statt. Anders als in begehrten Altstädten eben.

Ausgerechnet die Reisenden also, die so stolz auf ihre authentischen Erlebnisse sind, beeinträchtigen das Leben vieler Einheimischer mehr als die verschrienen Pauschalreisegruppen, spätestens wenn die Mieten steigen. Touristifizierung scheint ähnlich wie Gentrifizierung zu funktionieren. Diejenigen, die sie mit auslösen, wollen sich nicht angesprochen fühlen und sehen sich selbst als positive Ausnahme.

Solch gegensätzliche Selbst- und Fremdwahrnehmungen betont auch der Tourismusforscher Jeroen Oskam, Direktor des Research Centers der Hotelschool Den Haag: "In Berlin haben 2016 eine Million Airbnb-Besucher geglaubt, nicht Teil einer Masse zu sein." Sein Institut untersucht die Rolle der bekanntesten Vermittlungsplattform in europäischen Metropolen. Das Marketing sei brillant: "Das Image eines typischen Touristen, der Selfies vor dem Eiffelturm macht, wird Airbnb-Reisenden gegenübergestellt, die ganz entspannt in Häusern sitzen und sich kreativ miteinander die Zeit vertreiben."

Bekanntlich suchen alle Touristen Orte ohne Touristen, so Oskam: "Hotels können da deshalb niemals mithalten - denn wer in ein Hotel geht, ist per Definition ein Tourist. Aber das bedeutet doch nicht, dass Airbnb-Nutzer keine Massentouristen sind."

Noch extremer stand es einmal im Magazin Vice mit Blick auf New York: "Wenn man es wirtschaftlich betrachtet, ruiniert Airbnb dein Leben. Oder zumindest deine Chancen, dauerhaft in der Stadt zu leben." Airbnb bestreitet dagegen negative Effekte und weist regelmäßig darauf hin, dass die Vermietung von Privatwohnungen über das Portal vielen Stadtbewohnern dringend benötigte Einnahmen verschafft.

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"Ciutat per a qui l'habita" beklagt dagegen das Vorgehen von Spekulanten und Investoren. In kleinem Maßstab genutzt, biete die "Sharing Economy" durchaus mögliche Vorteile für die Einwohner, nicht jedoch in dem großen Stil, wie sie vielerorts von Unternehmen betrieben und zweckentfremdet werde. Man wende sich deshalb nicht gegen einzelne Reisende oder Eigentümer von Ferienwohnungen, sondern gegen die Entwicklungen, die dahinterstünden.

"Der Anteil der Spekulation variiert zwischen den Städten je nach der örtlichen Kontrolle", ist Oskams Beobachtung. "Sowohl Hotels wie auch Airbnb tragen zur Überlastung von Städten bei", sagt er. Der Unterschied sei jedoch, "dass Städte Hotels bis zu einem gewissen Punkt regulieren können, bei Vermietungen wie über Airbnb ist das noch nicht gelungen".

Genau diese Beschränkungen aber fordern Bürger in Städten weltweit; in New York, Amsterdam, Barcelona und Berlin mit ersten Ergebnissen. Sie befinden sich dabei aber teils in Konflikt mit den eigenen Nachbarn, denn die Kosten-Nutzen-Rechnung fällt durchaus verschieden aus. Der Schrecken der einen ist der Lebensunterhalt der anderen, auch was Souvenirshops und Touristenkneipen betrifft. "Es gibt eben auch die, die ihre Augen verschließen vor dem Verfall, weil man an dieser Art Tourismus viel verdienen kann", so die Venezianerin Crepaldi.

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Auf den Balearen läuft mittlerweile eine offizielle Kampagne für nachhaltigen Tourismus, doch das geht vielen nicht weit genug. Aktivisten wie Pere Perelló fordern, dass nicht nur die Vermietung von Ferienwohnungen in Mehrfamilienhäusern verboten bleibt, sondern überhaupt keine neuen Hotels oder andere Unterbringungen in Palma mehr entstehen dürfen. Ein ähnliches Moratorium wurde unter Bürgermeisterin Ada Colau in Barcelona bereits durchgesetzt. Venedig debattiert indes immer wieder über Maßnahmen wie Rollkofferverbote. Ende April wurde angekündigt, Personenzähler zum Beispiel an einzelnen Brücken einzusetzen. Wie dies genau ablaufen soll und mit welchen Konsequenzen, blieb zunächst jedoch unklar.

Verbote, ja oder nein?

Ein Problem ist die Lebensqualität, die unter zu viel Tourismus leidet, andere sind der Denkmal- und Naturschutz. Und die Grenzen sind fließend. Viele Orte auf der Welt haben Kontingente und Einschränkungen eingeführt, mit genau definierten Obergrenzen pro Tag oder eine Saison. Manchmal werden Menschen gezählt, manchmal Autos. Zum Beispiel am markanten Berg Half Dome im US-Nationalpark Yosemite, in den Habitaten der Berggorillas in Ruanda oder in der Ruinenstadt Machu Picchu in Peru, wo künftig nur noch vormittags und nachmittags 3600 beziehungsweise 2700 Menschen an Touren teilnehmen dürfen. Norwegen will bald einige Fjorde für veraltete, besonders umweltschädliche Kreuzfahrtschiffe sperren lassen. In Island fällt ein für Juli geplantes Festival der Band The XX kurzfristig aus, nachdem die Location am Wasserfall Skógafoss auf eine Naturschutzliste gesetzt wurde.

Der Spagat zwischen Profit und Nachhaltigkeit fällt aber vielerorts schwer. Aus Thailand war zuletzt von einem Hin und Her auf der Insel Ko Phi Phi zu hören. Die Maya Bay dort ist seit dem Film "The Beach" extrem begehrt und leidet vor allem unter den Hunderten stinkenden Ausflugsbooten, die die Bucht täglich ansteuern. Experten fordern eine lange Schließung für Besucher, damit sich die Korallen erholen können - diese wurde nun einmal mehr verschoben.

Geldmacherei auf Kosten von Natur und Einheimischen bleibt also das große Thema. Und das Totschlagargument mit den Arbeitsplätzen, die gerade in Spanien dringend gebraucht werden - dort wird der Anteil des Tourismus am Bruttoinlandsprodukt auf 16 Prozent geschätzt? Die Aktivisten von Palma prangern an, dass auch da viel im Argen liegt. Viele Jobs seien prekär, weil viele Mitarbeiter in der Nebensaison entlassen würden oder Putzfrauen für schlechten Lohn in immer weniger Zeit immer mehr Zimmer machen müssten: "Wenn der Tourismus schon so wichtig ist, dann soll er doch wenigstens ein gutes Leben ermöglichen, oder?"

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