Der deutsche Urlauber an sich, man muss das jetzt mal so klar schreiben, ist schon ein komischer Vogel. Wer das nicht glaubt, fährt in den nächsten Tagen am besten einmal über die Brennerautobahn, die sich als asphaltiertes Bindeglied zwischen Alltag und Freizeit von Österreich nach Italien windet. Auf dieser Autobahn fahren derzeit sehr viele Sonnensuchmenschen, um an einem dieser charakterlosen Spielstrände der Adria zu landen oder am multifunktionalen Gardasee oder auch nur, um dem geliebten Südtirol den obligatorischen Besuch abzustatten. Dabei liegt hier der beste Urlaub quasi links und rechts am Wegesrand.
Die Seitentäler direkt nördlich des Brenners haben nämlich im Grunde alles, was guter Bergtourismus so braucht, rein natur- und kulturräumlich gesehen. Zwischen Bergwäldern liegen prototypische Almen; es gibt Gewässer wie den Obernberger See, der direkt aus einer Postkarte in die Landschaft gesprungen sein muss, selten begangene Gipfel wie die Hohe Kirche und mit dem Olperer (3476 Meter) sogar einen kapitalen Prestigeberg. Wenn man so will, sind die Täler deshalb so speziell, weil nie versucht wurde, etwas Spektakuläres daraus zu machen. Warum die Gegend dennoch mehr Hinterhof der Innsbrucker ist als der Abenteuerspielplatz der viel mehr Profit versprechenden nördlichen Nachbarn, hat mit der großen Frage des alpenländischen Tourismus zu tun: Reicht heute im Wettbewerb der Ferienregionen noch ein bisschen traditionelle Almwirtschaft mit ein paar stillen Bergspitzen? Oder anders: Wie viel Wirbel und Wellness, wie viel Spa muss sein?
Valsertal, östlich des Brenners, letzter Parkplatz. Helga und ihre Alm sind nur noch wenige Gehminuten entfernt. Die Zeitreise hierher führt durch das wegen seiner Ursprünglichkeit mit dem Prädikat Bergsteigerdorf versehene St. Jodok, vorbei an alten Bauernhöfen zwischen weiten Wiesen. Kapellen stehen in regelmäßigen Abständen am Wegesrand, aber kein einziges Hotel. Im Osten sind bald die steilen Wände des Schrammachers (3410 Meter), der Fußstein und der Olperergletscher zu sehen. Etwas weiter den Hang aufwärts liegt die einzige Unterkunft des einst vom Gletscher ausgehobelten Trogtals. "Und da drüben ist immerhin noch die Touristenrast. Die heißt wirklich so, seit 100 Jahren."
Der Satz kommt von Werner Kräutler, grauer Bart, runde Brille, subtiler Humor. Er sagt: "Ich bin in Pension. Ich mach' das, was mich freut." Kräutler kann sich über sehr vieles freuen, die einige Hundert Meter höher gelegene Zeischalm zum Beispiel, die Kräuter oben auf der Bergmahd oder den Jakobsweg in Frankreich. Gerade freut es ihn aber besonders, Helga Hager auf der Nockeralm ein wenig unter die Arme zu greifen. Im vergangenen Sommer war der gebürtige Vorarlberger das erste Mal hier und fand eine Welt, über die er sagt, "da glaubst du gar nicht, dass es so etwas in Österreich noch gibt". Irgendwann stellte sich ihm aber auch die Frage: "Wovon lebt die Helga eigentlich?"
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Helga Hager, 54, betreut im Sommer 14 Geißen, manch eine davon "ein korruptes Viech", wie Kräutler weiß. Hager sagt: "Ob du Ziegen magst oder nicht, hast du in den Genen." Sie selbst ist im Valsertal aufgewachsen und hat sechs Jahre lang als Sennerin gearbeitet, bevor sie mit 22 in der Gastronomie landete. Die Hütte auf der Nockeralm gehört ihrer Familie, steht Überlieferungen zufolge seit 300 Jahren und war 27 Jahre lang nicht bewirtschaftet. "Das zu sehen, hat mich geschmerzt", so Hager. Im Winter arbeitet sie weiterhin als Sommelière in einem Kitzbüheler Vier-Sterne-Betrieb, "im Sommer hauen mir hier oben die Geißen blaue Flecken". Ein bisschen Ziegenkäse, ein wenig Ausschank, davon lebt die Helga im Sommer, und Kräutler stellte dann sehr schnell fest: "Wir brauchen Leute, die uns helfen." Er initiierte den Verein "Schule der Alm", um Sponsoren und freiwillige Helfer zu finden, die in der Freizeit gratis Gras mähen oder Bewässerungskanäle buddeln, Menschen jedenfalls, die wie Kräutler sagen: "Uns sind die Almen und die Bergmahd etwas wert."
Almwirtschaft ist für ihn nicht nur Einnahmequelle, sondern viel mehr ein so unverwechselbares wie bedrohtes Landschaftsmerkmal des Tals. Gerade steht Kräutler auf einer Bergmahd oberhalb der Hütte, jener steilen Wiese, deren Heu zum Überwintern einst lebensnotwendig war. "Wenn du hier nichts tust, dann wächst das zu." Man kann sich natürlich fragen: Was interessiert mich die Almwiese, wo es doch Trockenfutter gibt? Aber nicht mit Kräutler. Der bezeichnet die Almen und Bergmähder als "unser wertvollstes kulturelles Erbe", er gerät ins Schwärmen über "die 20 Pflanzen auf der roten Liste von Österreich, die hier wachsen". Weil Kräutler genau weiß, dass man heutzutage das Alte nur mit neuen Mitteln bewahren kann, ist neben der Alm auch das Internet sein Zuhause. "Wir haben zwar kein Geld, aber vier Accounts bei Twitter, zwei bei Instagram und zwei bei Facebook." Und auch wenn das Lamentieren nicht seine Paradedisziplin ist, kann er das. Jenes geplante Hotelprojekt am Obernberger See beispielsweise bezeichnet er in einem Blog als "größenwahnsinnig".
"Unerschlossenheit der Natur nutzen" versus "Hobbitland und Ballermannturm"
Also hinüber ins Obernbergtal, westlich des Brenners, letzter Parkplatz. Zum von Bergen umrahmten Obernberger See ist es eine kurze Wanderung. Direkt am See gammelt der verriegelte Alpengasthof vor sich hin. Im Tal selbst gibt es nur noch zwei Betriebe mit Unterkünften. "Vor zehn Jahren waren es noch fünf.
Zurzeit ist es so, dass das Tal touristisch ausstirbt." Clemens Unteregger sagt das. Sein Urgroßvater habe den Alpengasthof am See gebaut, er selbst sei früher immer im Urlaub dort gewesen, er kennt noch jedes der inzwischen geschlossenen Wirtshäuser beim Namen. Heute würde er das Areal mit seinen Brüdern gerne in das "Natur Refugia Obernbergersee" mit einem runden Hauptturm und zehn teilweise unter der Erde liegenden, appartementähnlichen Wohneinheiten umwandeln. Seit sechs Jahren kämpft er dafür, und wenn man ihm zuhört, kommt einem tatsächlich der Gedanke, dass Unteregger und Kräutler vielleicht gar nicht so weit auseinander liegen. Beide wollen beleben, nur will der eine das Alte bewahren und Unteregger etwas Neues schaffen, auch wenn der See Naturdenkmal und Teil eines Landschaftsschutzgebietes ist.
Das Verfahren ist noch am Laufen. Unteregger spricht davon, die "Unerschlossenheit der Natur zu nutzen". Gegner sprechen von "Ballermannturm" und "Hobbit-Land". Die Tiroler Umweltanwaltschaft sieht das Projekt kritisch; nach vielen positiven Rückmeldungen sei das letzte Gutachten durch einen externen Sachverständigen "nicht wirklich gut für uns ausgefallen", sagt Unteregger. Manch einer aus den Tälern mag die Geschichte gar nicht mehr hören. Klar ist nur, dass wieder etwas her soll, wo die Leute einkehren können.
Dabei werden langfristig wohl ohnehin andere darüber entscheiden, welche Projekte es wirklich braucht: die Touristen.