Das Politische Buch:Auf imperialer Mission

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Jubel für den Diktator: Wladimir Putin bei einem Auftritt in Moskau am 18. März 2022, wenige Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine. (Foto: Mikhail Klimentyev/AFP)

Die Russland-Experten Michael Thumann und Gerd Koenen gehen ihre Analysen über Wladimir Putins Herrschaft und den Krieg gegen die Ukraine sehr unterschiedlich an. Thumanns Buch ist Pflichtlektüre. Doch bei Koenen fehlt ein wichtiger Aspekt.

Rezension von Franziska Davies

Wer in den vergangenen Monaten einen Blick in das Programm des Verlags C.H. Beck geworfen hat, findet viele interessante Neuerscheinungen zu Russland. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hat doch der angesehene Münchner Verlag unter seinem guten Namen auch die Bücher der Kreml-Propagandistin Gabriele Krone-Schmalz herausgebracht und damit maßgeblich dazu beigetragen, die Verteidigung des verbrecherischen Putin-Regimes und antiukrainische Stereotype in Deutschland hoffähig zu machen und Desinformation unter dem Deckmantel der Analyse zu verbreiten. Diese hat der Verlag kurz nach der russischen Totalinvasion der Ukraine im Februar 2022 mit einer etwas merkwürdigen Begründung (die Bücher "könnten Gefühle verletzen") aus dem Programm genommen. Die Zeiten haben sich geändert.

Michael Thumann, langjähriger Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit, hat mit seinem Buch "Revanche. Wie Putin das gefährlichste Regime der Welt geschaffen hat" eine hervorragende Darstellung der Putin-Herrschaft geschrieben, in der er die Radikalisierung der russischen Politik und Gesellschaft präzise analysiert. Da dieser Krieg ohne die innere Entwicklung Russlands nicht zu verstehen ist, ist das Buch Pflichtlektüre für alle, die seine Vorgeschichte und Ursachen verstehen wollen. Dass das Buch auch noch sehr gut geschrieben ist, machte seine Erkenntnisse umso eingängiger.

Unheilvolle deutsch-russische Allianz

Auch wenn Thumanns Thema vor allem die jüngste Zeitgeschichte Russlands ist, so hat er dennoch auch längere historische Kontinuitäten im Blick - sei es die unheilvolle deutsch-russische Allianz, die vor allem auf Kosten Ostmitteleuropas ging, seien es die Phasen, in denen schon einmal ein Herrscher im Kreml mit äußerster Brutalität gegen imaginierte Feinde vorging. Weder das Erbe des russischen Imperialismus noch die Gewaltgeschichte der Sowjetunion, so Thumann, seien in der russischen Gesellschaft jemals wirklich aufgearbeitet worden. Deswegen sieht Thumann hier auch eher die historischen Analogien zum Heute - weniger sinnvoll erscheinen ihm Vergleiche mit NS-Deutschland. Hier könnte man einwenden, dass sich die beiden Vergleichsebenen nicht ausschließen müssen. Was wir über die Terrorherrschaft Russlands in den besetzten Gebieten in der Ukraine wissen, erinnert teilweise durchaus an jene Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs - freilich mit der wichtigen Ausnahme der gnadenlosen Ausrottungspolitik gegen das europäische Judentum. Der rassenbiologische Wahn eines Hitlers, der in einem völlig entgrenzten Vernichtungswillen gipfelte, finden wir beim derzeitigen Herrscher im Kreml nicht.

Russland habe "keine Grenzen", sagte Putin einst

Beruhigen sollte das keinesfalls, denn Russlands Politik nach innen und außen ist schlimm genug: Die Ukraine, deren unabhängige Existenz Putin und seine Unterstützer als historischen Fehler ansehen, soll als Staat und Nation vernichtet werden. Aber auch hier erinnert Thumann an Blaupausen aus der jüngsten russischen Vergangenheit, an Tschetschenien nämlich, wo die 2006 ermordete Anna Politkowskaja bereits von einem Genozid an der dortigen Zivilbevölkerung sprach. Thumann erinnert auch an Wladimir Putins Satz - bereits vor einigen Jahren formuliert -, dass Russland "keine Grenzen" habe. Vor dem Hintergrund, dass, wie der Autor treffend bemerkt, sich der russische Diktator in der Tradition der Zaren des russländischen Imperiums sieht - Peter I. ("der Große") und Katharina II. ("die Große") gehören zu seinen liebsten Vorbildern -, haben wir es in der Tat mit einem außerordentlich gefährlichen Regime zu tun. Ob es das "bedrohlichste Regime der Welt" ist, wie der Untertitel etwas reißerisch suggeriert, kann diese Rezension nicht beurteilen. Für Europa und damit auch für Deutschland ist Putins Russland zweifellos die derzeit größte Herausforderung, immerhin beherrschte das Zarenreich weit mehr als "nur" Teile der Ukraine. Putin versucht nicht nur, eine europäische Nation zu vernichten, er versucht auch, die europäische Friedensordnung zu zerstören.

Der Krieg und seine Folgen: Zerstörte Kirche im Ort Bohorodychne, aufgenommen am 15. April 2023. (Foto: Ihor Tkachov/AFP)

Eine besondere Qualität von Thumanns Buch ist auch, dass seine Darstellung nicht im Februar 2022 endet, sondern er seine Leserschaft teilhaben lässt an Entwicklungen in der russischen Gesellschaft nach der Totalinvasion. Als einer der wenigen blieb er als ausländischer Korrespondent im Land. Was man dort liest, ist hoch beunruhigend. Mindestens erhebliche Teile der Gesellschaft tragen diesen Krieg mit, glauben entweder an die imperiale Mission Russlands oder an die Lüge von den "Faschisten" in der ukrainischen Hauptstadt. Nur eine Minderheit, so erscheint es zumindest nach der Lektüre dieses Buchs, ist wirklich gegen diesen Krieg. Aber jeder öffentliche Protest ist bekanntermaßen mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden, wiederholt haben Oppositionelle außerdem die Erfahrung gemacht, dass keine Massenbewegung daraus wird. So haben sich die Aktivisten auf andere Felder zurückgezogen, etwa indem sie verschleppten Menschen aus der Ukraine die Rückreise in die Heimat oder nach Europa zu ermöglichen versuchen. Man kann nur hoffen, dass diese Menschen irgendwann und irgendwie die Anerkennung bekommen, die sie verdienen.

Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. Verlag C.H. Beck, München 2023 (7. Auflage). 288 Seiten, 25 Euro. E-Book: 18,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Über Russland schreibt auch Gerd Koenen, gewissermaßen ein Veteran der Russland-Forschung, der mit seinem Buch über den "Russland-Komplex" (Die Deutschen und der Osten 1900-1945. C.H. Beck, 2005) ein Standardwerk geschrieben hat, das heute aktueller denn je erscheint und jeder Person empfohlen sei, die die eigentümliche Blindheit großer Teile der deutschen Gesellschaft und Politik gegenüber Russland in den vergangenen Jahrzehnten aus historischer Perspektive verstehen will.

Nicht jeder Dissident vertritt westliche Werte

Sein neuer Band "Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland" fällt dem gegenüber etwas zurück. Etwas überrascht ist man, als man nach einiger Zeit feststellt, dass es sich um eine Sammlung von einigen neuen und mehreren älteren Aufsätzen Koenens aus den vergangenen Jahrzehnten handelt. Freilich sind einige dabei, die man mit Gewinn liest - besonders diejenigen, die noch einmal daran erinnern, dass es zwar so kommen konnte, wie es gekommen ist, aber nicht so kommen musste. So erinnert Koenen daran, wie Putins Vorgänger Boris Jelzin, der alles andere als ein Vorzeigedemokrat war, sich doch in einiget Hinsicht erheblich von seinem Nachfolger unterschieden hat. Etwa als er in einer Rede im Jahr 1998 von davon sprach, dass es "Zeit" sei, "die Wahrheit zu sagen (...) Wir alle tragen Schuld (...). Wir haben die Pflicht, dieses Jahrhundert, das für Russland im Zeichen von Blut und Gesetzlosigkeit stand, mit Reue und Versöhnung zu beenden." Demütige und selbstkritische Töne, die man heute von keinem hochrangigen Politiker Russlands hören würde.

Verteidigung mit allen Mitteln: Die Ukrainer feuern mit allem, was sie noch in ihrem Arsenal haben und was sie aus dem Westen geliefert bekommen. (Foto: Sameer Al-Doumy/AFP)

Zweifellos hat Koenen, der sich schon 2014 bezeichnenderweise als ein tatsächlicher Russland-Kenner gegen die vermeintlichen "Russland-Versteher" positionierte, auch das imperiale und antidemokratische Mindset dieser Eliten im Blick und weist - mal etwas zu zurückhaltend, mal erfrischend deutlich - außerdem darauf hin, dass auch die im Westen so heißgeliebten sowjetrussischen Dissidenten ebenfalls oft ein imperiales Mindset kultivierten. Allerdings bleiben durch den russlandzentrischen Blick Koenens die Objekte dieses imperialen Anspruchs eben Objekte. Sie haben in diesem Buch keine Stimme. Die Perspektive der vom russischen Imperialismus Betroffenen kommt deswegen zu kurz.

Ärgerlich ist auch, dass der Verlag immer noch an der Transkription von Kyjiw aus dem Russischen festhält und Kiew schreibt (wie auch die Süddeutsche Zeitung, Anm. d. Red.). Man mag das für eine Kleinigkeit halten, aber die vergangenen Jahrzehnte haben wahrlich gezeigt, wie sehr bestimmte Sprache und Begriffe die Wahrnehmung der Ukraine durch die russische Brille befeuert haben. Noch schwerer wiegt aber, dass das Buch durchgängig von "Weißrussland" und nicht Belarus spricht. Auch das ist ein Ausdruck davon, dass wir in Deutschland noch weit von einem tatsächlich dekolonialen Blick auf das östliche Europa entfernt sind.

Jüngere und osteuropäische Autoren fehlen

Dazu würde auch gehören, dass der wichtigste deutsche Publikumsverlag für Geschichtswissenschaften sich um ein diverseres Autorenprofil bemüht. Nach wie vor gibt es eine starke Dominanz älterer, männlicher und deutscher Autoren. Es steht außer Frage, dass viele von diesen Autoren wichtige, ja, unverzichtbare Bücher vorgelegt haben, die den Verharmlosungen des Putin-Regimes der angeblichen "Russland-Versteher" endlich einen realistischen Blick auf Russland und das deutsch-russische Verhältnis gegenüberstellen.

Gerd Koenen: Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland. Verlag C.H. Beck, München 2023 (2. Auflage). 317 Seiten, 20 Euro. E-Book: 14,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Dazu zählt außer dem Buch von Michael Thumann auch das kürzlich erschienene Werk über die "Moskau-Connection" des Netzwerks von Gerhard Schröder der beiden FAZ-Journalisten Reinhard Bingen und Markus Wehner. Mindestens irritierend ist aber, dass (jüngere) Osteuropa-Historikerinnen im Programm fast genauso abwesend sind wie Stimmen aus dem östlichen Europa selbst - obwohl es mehr als genug davon gäbe. Gerade diese hätten aber genau die Perspektiven einbringen können, die man in dem Buch von Koenen vermisst: gesellschaftliche Gruppen jenseits von politischen oder intellektuellen Eliten, das koloniale Erbe der Russischen Föderation, und zwar nicht nur durch die Brille russischer Eliten.

Franziska Davies lehrt lehrt Osteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In Kürze erscheint das von ihr herausgegebene Buch "Die Ukraine in Europa. Traum und Trauma einer Nation" bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (wbg Theiss).

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