Sachbuch:Rastlose Flucht nach vorn

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Vorbei? Seid euch da bloß nicht so sicher: Gerd Koenen erzählt die Geschichte der kommunistischen Weltbewegung. "Die Farbe Rot" ist ein unvollkommenes Meisterwerk der historischen Analyse.

Von Jens Bisky

Von der Elbe bis zum Jangtse wehten rote Fahnen, als Stalin im Dezember 1949 seinen 70. Geburtstag feierte. Anders als in den Jahren nach der Machtergreifung der Bolschewiki war der Sozialismus nicht länger auf ein Land beschränkt. Zu den Feierlichkeiten in Moskau versammelten sich die Führer der neuen Volksrepubliken ebenso wie Mao Zedong, der gerade den Sieg im chinesischen Bürgerkrieg davongetragen hatte und am Rande der Geburtstagsfeiern Kim Il-sung Unterstützung für eine Blitzoffensive gegen den Süden Koreas zusicherte. Stalin, der "Vater der Völker", wurde auch außerhalb des eigenen Machtbereichs verehrt. Der Sieg über Hitlerdeutschland hatte der Sowjetunion ein moralisches Prestige verliehen, demgegenüber die älteren Schreckensnachrichten verblassten.

Die Hungertoten in Folge der Entkulakisierung, die nach Quoten Ermordeten der Dreißigerjahre, Schauprozesse, Folterzellen, Gulag erschienen als Entgleisungen, Geburtswehen des Neuen, manchen gar als Notwendigkeit auf dem Weg zur heroischen Kraftanstrengung des Großen Vaterländischen Krieges, aus dem die kommunistische Weltbewegung erstarkt hervorgegangen war. Die Furcht vor ihr beförderte die Entstehung des "Westens", der heute gern als normatives Projekt verklärt wird und in seinen antikommunistischen Aktionen doch immer wieder gegen die eigenen Normen verstieß, und der kommunistische Propaganda regelmäßig jene Bilder lieferte, die sie brauchte.

War der Kommunismus ein "Protest gegen die Hohlheit des Wohlergehens"?

Gut vierzig Jahre nach Stalins Heerschau implodierte, militärisch nie besiegt, das sowjetische Imperium auf Staunen erregende Weise. Was wir da um das annus mirabilis 1989 herum erlebt haben, ist bis heute kaum angemessen verstanden, weil auch die Gegenwart noch von den Nachbeben dieser Implosion geprägt ist.

Was war der Kommunismus? Laut Brecht das Einfache, das schwer zu machen ist. Gangchanzhuyi - die chinesische Umschreibung des höchsten Ideals und endgültigen Ziels der Partei, bedeutet etwa "die gemeinsame Wiedergeburt der Herrschaft der Gerechtigkeit". Der Ökonom John Maynard Keynes vermutete, "die subtile, beinahe unwiderstehliche Verlockung des Kommunismus" bestehe darin, "dass er verspreche, die Dinge schlimmer zu machen". Es handele sich um einen "Protest gegen die Hohlheit des Wohlergehens", also einen "Appell an den Asketen in uns". Kommunisten in vielen Ländern sahen in ihrer Bewegung die Avantgarde einer "menschheitlichen Selbstbeauftragung" zur vernünftigen Neuordnung aller Verhältnisse im Handstreich.

In Gerd Koenens monumentaler Studie über die "Ursprünge und die Geschichte des Kommunismus" findet man all diese Bestimmungen, Aphorismen, Selbstbeschreibungen - und noch viele mehr. Ein Charakteristikum des Kommunismus sieht Koenen, angeregt vom Roman "Der stille Don", für den Michail Scholochow den Literaturnobelpreis erhielt, in der extremen "Spannung zwischen dem Höchsten und dem Niedrigsten, zwischen Humanismus und Terror". Aber auch das bleibt nicht das letzte Wort der analytischen Erzählung. Koenen misstraut der wohlfeilen, allzu oft mit liberaler Selbstzufriedenheit verbundenen Formel vom "Ende des Kommunismus". Er schreibt im kritischen Handgemenge, widerspricht beliebten Deutungen, etwa denen von Ernst Nolte oder Eric Hobsbawm. Von der ersten Seite an enttäuscht er alle Erwartungen an ein Handbuch, eine konventionelle Darstellung in antiquarischer Absicht. Er spannt den Bogen von mythischen Erzählungen über die Anfänge der Zivilisation bis hin zu jüngsten Ankündigungen der KP Chinas, berichtet von Rebellen wie Thomas Müntzer und Georg Büchner, schildert die Welt des Karl Marx, die Zukunftsbilder eines August Bebel, die politischen Strategien Lenins, die Logiken des Terrors und die Täuschungen des Kalten Krieges.

Zusammengehalten wird diese eigenwillige Erzählung von einer großen Leidenschaft fürs Erkennen jenseits monokausaler Erklärungen, von der Bereitschaft, sich selbst ins Wort zu fallen, die Verhältnisse zu komplizieren, um ihnen gerecht zu werden. Gerd Koenen war in den Siebzigern Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, er hat 2001 "Das rote Jahrzehnt" als großen Kehraus beschrieben und hat die "Utopie der Säuberung", den wichtigsten deutschen Beitrag zur Debatte über das "Schwarzbuch des Kommunismus", verfasst. 2010 erschien als Vorstufe zu "Die Farbe Rot" das instruktive Bändchen "Was war der Kommunismus?".

Gewiss war er weder eine bizarre Idee deutscher Stubengelehrter noch eine große Utopie, die leider falsch umgesetzt wurde. Er lebte und lebt von kulturell tief verwurzelten Sehnsüchten. Religiöse und philosophische Erzählungen schildern das Heraustreten der Menschheit aus einem mythischen Urzustand als Schrecken eigener Art. "Schuld- und fluchbeladen" erscheint der Verlust ursprünglicher Einheit, gleichviel ob man in deren Beschwörung Erinnerungen oder Fiktionen sehen will.

Koenen rekapituliert die Erzählungen von Gilgamesch, die biblische Schöpfungsgeschichte, Hesiods "Werke und Taten", asiatische Lebenslehren, christliche Reichtumskritik. Er gewinnt der eindrücklichen Revue eine wichtige, Max-Weber-Lesern plausible Pointe ab: Die Herkunft des modernen Sozialismus und Kommunismus aus der christlich-abendländischen Gedankenwelt sei leichter zu verstehen, als die Frage zu beantworten, warum in diesem neuzeitlichen Europa eine Wirtschafts- und Lebensweise entstand, die sich um Ursprünge, Gemeinschaft, Herkommen wenig schert, tradierte Bindungen sprengt und heute summarisch "Kapitalismus" genannt wird.

Gut 3000 Revolutionsprognosen sollen Marx und Engels im Lauf ihres Lebens abgegeben haben

Im Rückblick mögen wir in der Entstehung der modernen Welt einen Fortschritt nicht nur im Bewusstsein der Freiheit erkennen, sondern einen tatsächlichen Zugewinn an Möglichkeiten, beengte Verhältnisse hinter sich zu lassen, sozialen Aufstieg zu wagen. Aber die Aufstiegsbewegungen und Umwälzungen dank der industriellen Revolution zwischen 1750 und 1850 wurden von Zeitgenossen vielfach als säkulare Katastrophe wahrgenommen. Das bot den Resonanzraum für utopische Projekte und die Arbeiterbewegung, die sich an jene wandte, die als Proletarier jeden definierten sozialen Status verloren hatten.

Das war der historische Augenblick der Junghegelianer Karl Marx und Friedrich Engels. Gut 3000 Revolutionsprognosen sollen die beiden im Laufe ihres Lebens privat oder öffentlich abgegeben haben. Aber zu deren unvollendeten, in sich widersprüchlichen, fragmentarischen Lehren, zu materiellen Klasseninteressen und Erlösungshoffnungen musste anderes hinzutreten, um den unwahrscheinlichen Sieg der Bolschewiki möglich zu machen.

Das waren zum einen die Krisen und Katastrophen des imperialistischen Zeitalters, vor allem die Zerrüttungen infolge des Ersten Weltkriegs. Es brauchte einen Mann wie Lenin, dem allein die Revolution wichtig war, der "taktische Flexibilität" mit "doktrinärer Starrheit" verband und den offenen Pluralismus des Marxismus begrub. Seine eigenen, marxistisch geschulten Genossen haben ihn in den Schlüsselmomenten kaum verstanden, es stand in Petersburg 1917 und während des Bürgerkriegs mehrfach auf Messers Schneide, ob sie ihm folgen würden. Das Porträt des fanatischen Revolutionärs und die Analyse der Machtübernahme durch seine Bolschewiki sind ein Höhepunkt des Buches. Sie zeigen, wie der "Marsch in ein historisches Niemandsland" begann, wie "prozessuale Logik" die Bolschewiki zur "rastlosen Flucht nach vorn" trieb, warum sie auf ständige Mobilisierung und Terrorisierung angewiesen blieben.

Nicht Marx-Exegese und Klassenanalyse erklären, warum kommunistische Parteien an die Macht kommen und sich behaupten konnten, sondern die Krisen des globalen Kapitalismus und die Nationalgeschichten. Die genuine historische Leistung der Kommunisten sieht Koenen daher weniger in sozialen, ökonomischen, kulturellen Innovationen, zumal ja die Anarchie des Marktes durch noch größere Anarchie der Ein-Parteien-Herrschaft ersetzt wurde, sondern "auf dem Gebiet des Nation-building, der Herausbildung neuer oder der Wiederaufrichtung alter Staaten im Zuge der Zerschlagung des europäischen Hegemonial- und Kolonialsystems".

So beeindruckend und informativ diese Darstellung ist, sie hat wesentliche Schwächen. Die Proportionen stimmen nicht. Kaum mehr als 200 Seiten sind der Zeit nach Lenins Tod gewidmet. Daher wird Koenen der Zäsur des Tauwetters und Chruschtschows historischer Leistung nicht gerecht. Über die Volksdemokratien im sowjetischen Machbereich und die langen Stagnationsjahre ist kaum etwas zu erfahren. Die Erklärung des Endes - Ermüdung, Erlöschen der Mobilisierungsbereitschaft, moralische Selbstaufgabe - wirkt zu schlicht, verglichen mit der perspektivenreichen Darstellung, die dem "Marx'schen Momentum" und den heroischen Jahren der Sowjetunion zuteil werden.

Hinter die flotte Wendung vom "Ende des Kommunismus" gehört ein Fragezeichen

Es mag angesichts eines Tausendseiters absonderlich klingen, aber "Die Farbe Rot" ist zu kurz. Wer Koenen über die ersten 800 Seiten gefolgt ist, hätte gern noch mehr gelesen und sich dabei keineswegs gelangweilt. Der Autor überrascht immer wieder mit weniger bekannten Zitaten, Daten, Anekdoten. Wer kennt schon diesen Lenin-Satz: "Wer eine ,reine' soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben"? Wer weiß schon, dass Clara Zetkin und Karl Radek 1923 den deutschen Freikorpsleuten und den italienischen Faschisten attestierten, sie verträten "die energischsten, entwicklungsfähigsten Elemente" der ins Proletariat abstürzenden kleinbürgerlichen Schichten? Koenen schlägt ohnehin vor, den Internationalismus der kommunistischen Bewegung mit Bindestrich zu schreiben: Inter-Nationalismus.

Hinter die flotte Wendung vom "Ende des Kommunismus" gehört auf jeden Fall ein Fragezeichen. Und das nicht nur wegen Nordkorea oder der Volksrepublik China, nicht nur wegen der "halb-sklavischen Arbeitsregimes" in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die kapitalistische Wirtschaftsweise produziert unentwegt Krisen und Katastrophen. Und auch wer nicht daran glaubt, dass Weltrevolution ein Ausweg wäre, unterliegt dem Zwang entfremdeter Verhältnisse.

© SZ vom 29.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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