Kinderpsychiater Michael Winterhoff:Schleppende Ermittlungen im Fall Winterhoff

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Der Kinderpsychiater und Autor Michael Winterhoff war ein gern gesehener Gast in Talk-Shows wie hier bei Anne Will. (Foto: Imago)

Vor fast acht Monaten berichteten SZ und WDR über dubiose Behandlungsmethoden des Bonner Kinderarztes. Betroffene zeigten Winterhoff an, sollen aber erst jetzt vernommen werden. Die Anwälte sind irritiert.

Von Nicole Rosenbach und Rainer Stadler, München

Mehrfach hat Joachim Stamp (FDP) gefordert, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Als die große Koalition vergangenes Jahr eine entsprechende Verfassungsänderung ankündigte und sie dann doch nicht vor der Bundestagswahl umsetzte, bedauerte der nordrhein-westfälische Familienminister und Vizeregierungschef das ausdrücklich. "Ich glaube, dass es ein wichtiger, wenn auch symbolischer Punkt gewesen wäre", sagte Stamp.

In der Praxis scheint Stamp dieser Punkt weniger wichtig zu sein. Im August 2021 berichteten WDR und Süddeutsche Zeitung erstmals über die abstrusen Behandlungsmethoden des bekannten Bonner Kinderpsychiaters Michael Winterhoff. Er hatte Kindern und Jugendlichen Diagnosen ausgestellt, die sich in keinem Lehrbuch finden, und ihnen jahrelang Neuroleptika verschrieben. Besonders häufig: das Mittel Pipamperon.

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Pipamperon wirkt stark sedierend, Experten empfehlen es nur in Notfällen für eine kurze Zeit - etwa bei heftigen Aggressionen, wenn Kinder und Jugendliche therapeutisch nicht mehr anders erreichbar seien. Winterhoff jedoch verschrieb das Mittel seinen jungen Patienten fast standardmäßig, manche mussten es bis zu zehn Jahren einnehmen. Die Liste der Nebenwirkungen von Pipamperon ist lang. Viele Betroffene leiden noch Jahre nach dem Absetzen unter ständiger Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Bewegungsstörungen. Nicht wenige fühlen sich ihrer Kindheit beraubt.

Als die Vorwürfe bekannt wurden, versprach Stamps Ministerium umfassende Aufklärung. Doch bis heute haben er und seine Mitarbeiter nichts dazu beigetragen, das ganze Ausmaß möglicher Straftaten zu untersuchen, die auf das Konto des Bonner Kinderarztes gehen könnten - und auf das der Jugendhilfe-Einrichtungen, die mit ihm kooperierten. Das Ministerium kann nicht einmal Auskunft darüber geben, in wie vielen Heimen in Nordrhein-Westfalen der seit den Achtzigerjahren praktizierende Winterhoff Kinder und Jugendliche behandelte und möglicherweise schädigte.

Wer das Medikament nicht wollte, wurde unter Druck gesetzt

Die Anwälte klagender Betroffener verstört die staatliche Untätigkeit. Laut Seda Başay-Yıldız, die auch im NSU-Prozess die Rechte von Klägern vertrat, zeigt diese Passivität, wie wenig Kindeswohl und Kinderrechte zählen. "Sonst würde ein Fall wie dieser, bei dem potenziell Hunderte Kinder betroffen sind oder waren, richtig aufgeklärt." Kilian Wegner, der Strafrecht lehrt und ebenfalls eine ehemalige Patientin Winterhoffs vertritt, erkennt anhand des Falls "ein erhebliches systematisches Problem". Offensichtlich sei der Bereich der Jugendhilfe "von Verantwortungsdiffusion und mangelnder Kontrolle durchzogen". Das System könne missbraucht werden, das habe der Fall Winterhoff gezeigt.

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Tatsächlich wurden Eltern und Erziehungsberechtigte von Jugendämtern oder Heimen zum Teil sogar unter Druck gesetzt, einer Behandlung durch Winterhoff zuzustimmen. Wer sich wehrte, lief Gefahr, das Sorgerecht für sein Kind zu verlieren. Wegner kritisiert, er könne nicht erkennen, dass in der Jugendhilfe daraus "bisher irgendwelche Lehren gezogen wurden".

Der Bonner Anwalt Mehmet Daimagüler sagt, er habe wiederholt darauf hingewiesen, dass auch nach den ersten Berichten zum Fall Winterhoff die Medikamentierung von Kindern und Jugendlichen in einigen Heimen weiterging. "Da hätte ich einfach Präventivmaßnahmen erwartet." Ende 2021 gab Winterhoff bekannt, seine Praxis aus Altersgründen zu schließen. "Aber ich weiß nicht, ob er weiter ärztlich tätig ist, ohne Praxis, ich weiß nicht, wie die Situation in den Heimen ist", sagt Daimagüler.

Die verantwortlichen Ministerien in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, wo Winterhoff vorwiegend tätig war, sehen vor allem Staatsanwaltschaft und Ärztekammern in der Pflicht, den Fall aufzuarbeiten. Doch die Bemühungen halten sich in Grenzen. Die Ärztekammer Nordrhein veröffentlichte Ende Februar ein Gutachten, das eine mehrwöchige Behandlung mit Pipamperon bei Kindern und Jugendlichen als "in aller Regel nicht indiziert" bewertet. Andernfalls könnten irreversible und lebensbedrohliche Nebenwirkungen auftreten. Nichts Neues, mehrere Experten und die Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte schon Monate zuvor darauf hingewiesen.

Die Justiz reagiert zögerlich - und die Anwälte fragen sich, warum

Auch die Bonner Staatsanwaltschaft geht den Anzeigen ehemaliger Winterhoff-Patienten nur schleppend nach. Bis Ende Januar hatte sie keinen einzigen Betroffenen vernommen. Auf Nachfrage von WDR und SZ erklärte ein Sprecher, es würden "Vorfragen aufgrund der Aktenlage" geklärt. Und: "Es wurde auch an Betroffene herangetreten." Die Anwälte bestätigen, dass es Nachfragen gab. Aber, so Daimagüler, dass er Strafanzeige erstatte und dann Fragen erhalte, die er wiederum bei seinen Mandanten eruieren müsse, das kenne er so nicht. "Warum befragt man die Mandanten nicht direkt?"

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Irritiert ist Daimagüler zudem, weil er und seine Kollegen bis heute keine Akteneinsicht erhalten haben. Beim NSU-Prozess, an dem Daimagüler auch mitwirkte, sei das nach drei Monaten möglich gewesen, obwohl die Akte deutlich umfangreicher war. Der Strafrechtsexperte Wegner bemängelt, dass die Staatsanwaltschaft für jeden einzelnen Betroffenen ein eigenes Verfahren anlege. Angesichts der Verknüpfung der Fälle sei das "problematisch". Tatsächlich hatte Winterhoff ganze Gruppen von Heimkindern mit Medikamentencocktails behandelt. Seda Başay-Yıldız hat den Eindruck, die Staatsanwaltschaft wolle Zeit verstreichen lassen und die Verfahren "irgendwann in aller Ruhe einstellen".

So weit dürfe es nicht kommen, warnt Daimagüler. "Wir haben es hier mit Kindern zu tun, die auf vielfache Weise wehrlos waren". Viele von Winterhoffs Patienten wuchsen in schwierigen Verhältnissen und Heimen auf - sie müsse der Rechtsstaat besonders schützen. Seit einigen Tagen erhalten wenige Betroffene erstmals Vorladungen für Vernehmungen. Bei seinen fünf Mandanten habe sich aber noch niemand gemeldet, sagt Daimagüler.

Aus Stamps Familienministerium in Düsseldorf heißt es, man nehme "die Vorwürfe gegen Herrn Winterhoff unverändert sehr ernst".

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