Wahlrecht:Eine Blamage für den Bundestag

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Derzeit gibt es 709 Abgeordnete, dabei liegt die Norm bei 598. Nach der nächsten Wahl könnten es sogar mehr als 800 sein. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Union und SPD blockieren mit Maximalforderungen die nötige Verkleinerung des Bundestags. Seit Jahren geht nichts voran. Das schadet dem Ansehen des Parlaments.

Kommentar von Robert Roßmann, Berlin

Mit dem Wahlrecht ist es ja so eine Sache. Die meisten denken dabei erst einmal an Mathematik - manche auch an all die D'Hondt- und Hare-Niemeyer-Verfahren, die sie schon in der Schule nicht verstanden haben. Besonders erbaulich sind derlei Erinnerungen nicht. Das geringe Interesse an dem Thema ist also erklärlich, schädlich ist es trotzdem. Denn das Wahlrecht ist so etwas wie das Betriebssystem der Demokratie. Es übersetzt ein Abstimmungsergebnis in Sitze - und entscheidet damit über die Macht im Staat.

Donald Trump hat bei der Präsidentschaftswahl fast drei Millionen Stimmen weniger erhalten als Hillary Clinton - trotzdem sitzt jetzt er im Weißen Haus. Und die Tories von Boris Johnson kamen bei der jüngsten Unterhauswahl auf 43,6 Prozent - trotzdem erhielten sie 56 Prozent der Mandate und können damit allein regieren. In beiden Fällen war das Wahlrecht und nicht die Mehrheit entscheidend. In Deutschland würden derlei Ergebnisse zu heftigen Diskussionen führen. Es geht bei Wahlrechtsdebatten also immer auch darum, was eine Gesellschaft als gerecht empfindet.

Wahlrecht
:Die Koalition ist sich nur darin einig, uneins zu sein

Die Fraktionen von Union und SPD können sich nicht auf einen Gesetzentwurf zur Verkleinerung des Bundestags verständigen. Jetzt soll der Koalitionsausschuss den Streit lösen.

Von Robert Roßmann

Die Fraktionen im Deutschen Bundestag stehen deshalb vor keiner leichten Aufgabe. Das Parlament hat eine Normgröße von 598 Sitzen. Derzeit gibt es aber 709 Abgeordnete, und nach der nächsten Wahl könnten es mehr als 800 sein. Schuld daran ist die steigende Zahl an Überhangmandaten samt den vielen Ausgleichsitzen für die jeweils anderen Parteien.

Eingeständnis eines gewaltigen Scheiterns

Um einen Riesen-Bundestag zu verhindern, muss das Wahlrecht geändert werden, darin sind sich alle Fraktionen einig. Aber über das Wie streiten sie jetzt schon seit sieben Jahren. Ja, Wahlrechtsänderungen sind kein einfaches Unterfangen. Das sind Gesundheits- oder Steuerreformen aber auch nicht, dennoch gab es bei diesen Herausforderungen Kompromisse. Beim Wahlrecht aber versagt das Parlament. Mittlerweile sei es für eine grundlegende Reform vor der Bundestagswahl 2021 zu spät, hat SPD-Chef Norbert Walter-Borjans jetzt gesagt. Es sei bestenfalls noch eine Übergangslösung möglich. Das Statement ist Eingeständnis eines gewaltigen Scheiterns - für das ausschließlich Union und SPD verantwortlich sind.

Obwohl bereits seit der Bundestagswahl 2013 über die Reform des Wahlrechts gesprochen wird, hat sich die SPD-Fraktion erst im März dieses Jahres zu einem Vorschlag durchringen können. Die Abgeordneten von CDU und CSU brauchten sogar bis Ende Juni, um sich auf ein Modell zu verständigen. Und ein substanzieller Kompromiss zwischen den beiden Koalitionsfraktionen ist nicht in Sicht. In den vergangenen Tagen haben sich CDU und SPD sogar gegenseitig mit heftigen Vorwürfen überzogen. Kommende Woche soll der Koalitionsausschuss noch einen Ausweg finden. Doch dabei dürfte bestenfalls eine halb gare Übergangslösung herauskommen, siehe die Erklärung von Norbert Walter-Borjans.

An der Opposition liegt es nicht

FDP, Grüne und Linke haben sich dagegen schon lange über die Fraktionsgrenzen hinweg auf einen umfassenden Gesetzentwurf verständigt. Die große Koalition hat die Abstimmung darüber im Bundestag aber mit Verfahrenstricks blockiert. Auch die AfD hat bereits einen ernst zu nehmenden Vorschlag präsentiert und ins Parlament eingebracht. Dabei wäre es an der Koalition und nicht an der Opposition, eine Lösung zu finden.

Union und SPD stehen jedoch seit Jahren auf der Bremse. Die Aussicht ist ja auch verlockend: Ein Bundestag mit 800 statt 598 Sitzen bedeutet, dass viele Abgeordnete, die ansonsten um ihr Mandat bangen müssten, relativ problemlos weitermachen könnten.

Dass Union und SPD nicht zusammenkommen, liegt aber auch daran, dass beide die Verhandlungen mit für die jeweils andere Seite inakzeptablen Forderungen aufgeladen haben. Die Union verlangt, dass eine gewisse Zahl an Überhangmandaten nicht mehr durch Sitze für die anderen Parteien ausgeglichen wird. Das würde die Unionsparteien bevorzugen, die zuletzt 43 von 46 Überhangmandaten gewonnen haben. Die Union bekäme also einen Mandatebonus, und das Parlament wäre nicht mehr entsprechend dem Zweitstimmenergebnis zusammengesetzt.

Die SPD wiederum verlangt, dass bereits im Gesetz zur Verkleinerung des Bundestags festgeschrieben wird, dass Parteien ihre Listen paritätisch mit Frauen und Männern besetzen müssen. Für die Union ist das inakzeptabel, auch weil in Thüringen gerade ein entsprechendes Landesgesetz für verfassungswidrig erklärt wurde. Sogar bei den Grünen, die schon lange für Parität eintreten, heißt es, die SPD verhindere mit dieser Koppelung eine Verkleinerung des Bundestags, weil die Union kein Paritätsgesetz mittragen werde.

Doch die beiden Koalitionsfraktionen beharren trotzdem auf ihren Maximalpositionen. Sie blockieren damit nicht nur eine wirksame Verkleinerung des Bundestags, sie schaden auch dem Ansehen des Parlaments.

© SZ vom 21.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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