Debatte um Energiekosten:Zwischen Optimismus und Furcht

Lesezeit: 4 min

Charles Michel findet, die Kommission habe es verschlafen, Menschen und Unternehmen vor einer Kostenexplosion zu schützen. Ursula von der Leyen plant langfristig. (Foto: Olivier Matthys/AFP)

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen betont bislang lieber die Chancen der Gaskrise und verweist auf den Ausbau grüner Energie. Ratspräsident Michel wirft ihr nun vor, Bürger und Firmen im Stich zu lassen.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Wenn Institutionen wegen einer Krise nervös werden, fangen sie oft an, Papiere mit Lösungsvorschlägen zu produzieren. Keine Behörde will den Eindruck erwecken, sie tue nichts. Wenn Politiker wegen einer Krise nervös werden, fangen sie oft an, auf andere zu zeigen. Niemand will am Ende die Verantwortung dafür tragen müssen, dass etwas schiefgelaufen ist.

Insofern ist es wohl ein Beleg für den Ernst der Lage, dass es in Brüssel in den vergangenen Tagen nicht an Positionspapieren dazu gefehlt hat, wie Europa seine Bürger und Unternehmen vor den rasant steigenden Strom- und Gaspreisen schützen kann. Genauso wenig hat es allerdings an Schuldzuweisungen gemangelt. Vor allem einen Machtkampf hat die Krise wieder aufflammen lassen - den zwischen der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, und dem Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel.

SZ PlusZuschüsse, Preisdeckel, Übergewinnsteuer
:So helfen europäische Regierungen ihren Bürgern

In ganz Europa sind steigende Energiekosten das bestimmende Thema. Der Umgang damit aber ist unterschiedlich. Ein Streifzug durch fünf Länder.

Von SZ-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

Den Anfang machte vor einer Woche Michel. Er warf der Kommission - und damit de facto von der Leyen - in einem Interview vor, die dramatischen sozialen Folgen der Energiekrise verschlafen zu haben. Die Kommission habe sich zwar mit Themen wie dem Energiesparen und dem Füllstand der Gasspeicher befasst. Aber um die Preisexplosion, die für viele Menschen und Firmen ein "gewaltiges, gewaltiges Problem" sei, habe sich die Behörde zu spät gekümmert, sagte Michel. Und das, obwohl die EU-Regierungen, deren Vertreter in Brüssel er ist, seit Monaten um Vorschläge gebeten hätten, wie man Abhilfe schaffen könne.

Von der Leyen reagierte auf die Kritik nicht öffentlich - was freilich nicht heißt, dass die Attacke des Ratspräsidenten nicht wahrgenommen und als unangemessen, wenn nicht gar politisch schädlich angesehen wurde. Dass mitten in einer solchen Krise zwischen den führenden EU-Vertretern Streit ausbreche, nütze doch wohl nur dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, hieß es kopfschüttelnd aus von der Leyens Umfeld.

Die Abneigung der beiden belaste die Zusammenarbeit

Nun ist man in Brüssel daran gewöhnt, dass von der Leyen und Michel sich nicht mögen. Das war schon bei dem missglückten gemeinsamen Besuch beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan im April 2021 offensichtlich, als von der Leyen keinen Stuhl angeboten bekam, Michel sich aber ohne zu zögern auf den seinen setzte. Die Abneigung zwischen den beiden belaste auch die Zusammenarbeit zwischen Kommission und Rat, sagen Leute, die sich in Brüssel auskennen.

Doch in diesem Fall geht der Dissens offenbar über persönliche Animositäten hinaus, ebenso über die normale Konkurrenz zwischen den beiden mächtigsten EU-Behörden. Wenn man mit Mitarbeitern der Institutionen spricht, die die frühere deutsche Ministerin und der ehemalige belgische Regierungschef leiten, dann wird deutlich, dass die Perspektive, aus der sie die Energiekrise sehen, doch recht unterschiedlich ist.

So kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass es in der Kommission Beamte gibt, die die Krise als Chance sehen und die hohen Gas- und Ölpreise als Möglichkeit, um Europas Übergang zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Zumindest ist das ein Aspekt, der selbst in jüngster Vergangenheit noch in Reden von der Leyens prominent auftauchte. "Grüne Energiequellen schneller zu erschließen, ist letztlich der beste Weg, um von fossiler Energie aus Russland unabhängig zu werden", sagte die Kommissionspräsidentin zum Beispiel Ende August bei einer Konferenz. Dann lobte sie, wie viele Milliarden die EU in den Ausbau der Erneuerbaren steckt.

Das ist nicht falsch. Aber es ist auch recht langfristig gedacht. Kurzfristig macht sich Europas Abhängigkeit vom russischen Gas jedenfalls bitter bemerkbar. Von der Leyens Reden kontrastierten daher deutlich mit den düsteren Äußerungen anderer europäischer Politiker wie der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, die vor "Volksaufständen" wegen hoher Heizrechnungen warnte, oder dem belgischen Premier Alexander De Croo, der seine Landsleute kürzlich auf "fünf bis zehn schwierige Winter" einstimmte.

Auch im EU-Parlament wird darauf gedrängt, dass Europa die sozialen Folgen der Energiekrise abfedert und die Strom- und Gaspreise wieder auf ein erträgliches Niveau drückt. "Jeder, der einen Ofen hat, vom Bäcker bis zum Stahlwerk, überlegt sich derzeit, ob er sich leisten kann, den anzuschalten", sagt der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier. "Da muss jetzt gegengesteuert werden." Die hohen Energiekosten seien "längst kein Preissignal für grüne Energie mehr, sondern wir stehen vor der Katastrophe".

"Nichts zu tun, ist keine Option"

In diese Kerbe schlug Charles Michel bei seinem Interview - nur um die Kommission etwas aufzurütteln, nicht um von der Leyen persönlich zu treffen, wie es im Europäischen Rat heißt. In der Kommission in Brüssel arbeiteten viele fähige Leute, sagt ein Ratsmitarbeiter. Aber zuweilen seien diese Menschen doch etwas entrückt von der Lebenswirklichkeit der Normalbürger im Rest Europas. Die EU-Regierungen spürten die Angst ihrer Bürger vor unbezahlbarer Energie, die in manchen Ländern bereits in Wut und Proteste umschlägt, hingegen sehr unmittelbar, sagt dieser Mitarbeiter. "Das Haus brennt. Die Verbraucher werden hart getroffen, die Firmen werden hart getroffen. Das ist die schlimmste Krise, die wir in den vergangenen Jahrzehnten hatten. Nichts zu tun, ist keine Option."

In der Kommission wird die Kritik, die Präsidentin tue nichts, zurückgewiesen. Und auch unbeteiligte Beobachter in Brüssel verweisen darauf, dass von der Leyen sich vermutlich eng und direkt mit den EU-Regierungen abstimme, vor allem mit Berlin. Es sei schon möglich, dass Michel davon nichts mitbekommen habe.

Tatsache ist aber auch, dass die Kommissionspräsidentin ihren Ton nach dem Michel-Interview geändert hat. Sie redet immer noch viel über die grüne Energie der Zukunft. Aber als sie Mitte der Woche ihre Vorschläge im Kampf gegen die Energiekrise vorstellte, sprach sie auch über "astronomische Strompreise" und "verwundbare Haushalte und Unternehmen", denen die EU helfen müsse. Ursula von der Leyen klang dabei plötzlich fast so besorgt wie Charles Michel.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusRechtsextreme und die EU
:Wölfe im Schafspelz

In europafreundlichen Zeiten neigen die rechtsextremen Parteien Italiens und Frankreichs plötzlich zum moderaten Auftritt: Sie wollen die EU nur noch "reformieren", statt sie zu verlassen.

Von Hubert Wetzel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: