Als Agrardreieck wurde eine landwirtschaftlich nutzbare Region in der Sowjetunion bezeichnet. Das drei Millionen Quadratkilometer große Gebiet erstreckte sich zwischen Sankt Petersburg, Odessa und Irkutsk. Hier wurden riesige Mengen Getreide, aber auch Zuckerrüben, Mais und Sonnenblumen angebaut. Die ertragreichsten Böden innerhalb dieser Zone - bekannt für ihre fruchtbare schwarze Erde - lagen im europäischen Teil, in der Ukraine. Diese Kornkammer ernährt längst auch Teile des Nahen Ostens und Ostafrikas, von Instabilität und Lebensmittelknappheit geprägte Länder.
Nun herrscht Krieg in der Ukraine. Durch den Überfall Russlands verursachte Produktionsausfälle sowie Schäden an Häfen und vielfältige Sanktionen dürften zu einem Rückgang der Exporte führen. Bereits jetzt steigen die Weltmarktpreise, wachsen die Sorgen um die Nahrungsversorgung in Afrika und Asien. Der Hunger wird zunehmen.
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Um fast 30 Prozent war der Weizenpreis im vergangenen Jahr gestiegen, laut Analysten könnten nun noch einmal 30 Prozent dazukommen. Russland und die Ukraine haben einen Anteil von etwa einem Drittel der globalen Weizenexporte, bei Sonnenblumenkernen sogar von 80 Prozent. Die Ukraine allein verschiffte 2021 etwa 33 Millionen Tonnen des Korns. Künftig werden diese Exporte wohl dramatisch einbrechen.
"Das ist eine Katastrophe, die zu einer anderen kommt", sagt David Beasley, Direktor des Welternährungsprogramms (WFP). Die UN-Organisation bezieht 50 Prozent ihres Getreides aus der Ukraine. Schon vor dem Krieg hatte sich dies derart verteuert, dass die Lebensmittelrationen in Jemen um die Hälfte gekürzt werden mussten. In dem arabischen Land herrscht seit 2015 Bürgerkrieg, seit Jahren sind weite Teile der Bevölkerung von Unterernährung betroffen. "Gerade wenn man denkt, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, wird es noch schlimmer", so Beasley.
"Es gibt keinen Ersatz für Brot."
"Der Russland-Ukraine-Konflikt ist besorgniserregend, insbesondere für die Region Ostafrika, in der ebenfalls Dürre herrscht und Getreide importiert werden muss", so Wandile Sihlobo, Landwirtschaftsexperte an der Universität Stellenbosch in Südafrika. Die Lebensmittelpreise in Afrika seien in den letzten zwei Jahren aufgrund der weltweiten Dürren und der steigenden Nachfrage Chinas und Indiens ohnehin schon stark gestiegen. Verschärft wird die Lage durch gestiegene Energiekosten und dadurch, dass auch Kunstdünger immer teurer wird. Russland ist weltweit der zweitgrößte Hersteller solcher Stoffe, Erdgas ein wichtiger Rohstoff dafür.
Am Mittelmeer dürfte besonders Libanon unter gestiegenen Weizenpreisen leiden. Der Krisenstaat, seit 2019 im Griff einer verheerenden Wirtschaftskrise, bezog zwischen 2010 und 2019 bis zu 95 Prozent seiner Getreidekäufe aus der Schwarzmeerregion. Russische und ukrainische Ausfälle könnten ausgeglichen werden, wenn Rumänien und Kasachstan ihren Anteil steigern, sagt Ahmad Hoteit, Präsident der Müller-Gesellschaft. Wenn aber die gesamte Region betroffen wäre, müsste der Weizen aus Argentinien oder den USA geholt werden. "Doch der Transport dauert 25 Tage wegen der Entfernung", so Hoteit. Der libanesische Agrarwissenschaftler Riad Saade rechnet nicht damit, dass die Regierung seines Landes etwas unternimmt: "Wahrscheinlich ist ihnen das Problem nicht mal bewusst." Dabei sei Weizenknappheit noch schlimmer als Mangel an Treibstoff oder Strom, woran sich die Libanesen bereits gewöhnen mussten. "Es gibt keinen Ersatz für Brot", sagt Saade, "das ist das Essen der armen Leute, das einzige, was sie sich leisten können."
Die Abhängigkeit der Länder der Region von Weizen sei historisch gewachsen, erklärt Alex Smith vom Breakthrough Institute in Oakland (Kalifornien): "Einst wurde vor Ort viel davon angebaut, etwa in Syrien vor dem Krieg." Sorgen machen müsse man sich nun auch um Ägypten, so Smith: "Das Land bezieht ebenfalls über 50 Prozent seines Weizens aus Russland und der Ukraine." Eine geplante Ausschreibung für den Import großer Mengen des Getreides musste gerade abgesagt werden. Dabei fußt die Stabilität des größten arabischen Landes (105 Millionen Einwohner) auf diesen Einfuhren. Die Regierung stellt damit seit Jahrzehnten bezuschusstes Brot her. Als Präsident Anwar al-Sadat die Subventionen 1977 kürzte, brachen Unruhen aus - er ruderte zurück. Als die Ägypter 2011 in ihrer Revolution auf den Tahrir-Platz zogen, forderten sie: "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit". Nur das Verlangen nach günstigen Backwaren hat sich erfüllt. Die Frage ist nun, wie lange das noch so bleibt.