Ukraine:Wo sich Kriege begegnen

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Im Herbst hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Litauen symbolisch den einmillionsten deutschen Kriegstoten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgebettet. (Foto: Alexander Welscher/dpa)

Ukrainer heben Schützengräben aus und stoßen auf gefallene deutsche Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Und der mehr als hundert Jahre alte Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge entdeckt durch diesen Krieg eine neue Versöhnungsaufgabe.

Von Georg Ismar, Berlin

Wolfgang Schneiderhan ist manchmal selbst überrascht, was der Krieg zutage fördert, etwa beim Ausheben von Schützengräben. In der Ukraine sehe man gerade, dass das Motto "Versöhnung über den Gräbern" zeitlos ist, sagt der 77-Jährige. Es ist der Leitspruch des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Schneiderhan ist seit sechs Jahren dessen Präsident. Irgendwann werde der Ukraine und Russland dieser Prozess auch bevorstehen, glaubt Schneiderhan.

Er sitzt in einem Altbaubüro am Berliner Lützowufer, ein alter Kachelofen steht in der Ecke. Von hier kann er über den Landwehrkanal hinüberschauen zu seinem früheren Büro im Bundesministerium der Verteidigung. "Ich bin mit 77 Jahren eher der Altersdurchschnitt im Volksbund", sagt der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr.

Der Volksbund wurde 1919 gegründet. Neben der Kriegsgräberpflege ist es seine Aufgabe, das Schicksal von anonym verscharrten gefallenen Soldaten zu klären. Die Gebeine werden dann nach einer Ausbettung in der Regel in den jeweiligen Ländern auf Soldatenfriedhöfen bestattet. Es gibt mehr als 5,4 Millionen erfasste deutsche Kriegstote und Vermisste und rund 830 deutsche Kriegsgräberstätten in 46 Ländern. Seit etwa 30 Jahren gibt es das Kriegsgräberabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Russischen Föderation, es ist das wichtigste der insgesamt 44 Abkommen, zuletzt kamen noch Serbien und Kosovo hinzu.

In der Ukraine prallen gerade Vergangenheit und Gegenwart aufeinander

Schneiderhan denkt in diesen Monaten, wo die Lage sich für die Ukraine zu verdüstern droht, viel über den Epochenbruch seit jenem 24. Februar 2022 nach. "Wir haben auf beiden Seiten der Front Leute, die der Volksbund bezahlt hat, die für uns als Ortskräfte gearbeitet haben", sagt Schneiderhan. "Man muss sich den Wahnsinn einfach einmal vorstellen." Der Krieg führt immer wieder zu Ereignissen, die auch seine Arbeit für den Volksbund betreffen, da prallen dann Vergangenheit und Gegenwart aufeinander.

So wurde etwa der Körper eines deutschen Wehrmachtssoldaten in der Region Charkiw gefunden, als Ukrainer einen Schützengraben ausgehoben haben. "Die ukrainischen Soldaten haben die Erkennungsmarke an uns übergeben", sagt Schneiderhan. So gelang die Identifizierung. Der Tote würde normalerweise in Charkiw beerdigt. Da es dort im Moment aber zu gefährlich ist, soll er auf einem Friedhof in Kiew begraben werden.

Ein anderes Beispiel seien Funde nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine, sagt Schneiderhan. "Wir haben auf Bildern und Fotos auf dem ausgetrockneten Grund Stahlhelme gesehen, die möglicherweise der Deutschen Wehrmacht zuzuordnen sind." Allerdings waren es unscharfe Posts aus sozialen Medien. "Wir haben aktuell keine Chance, das zu verifizieren. Der Staudamm liegt in der sogenannten roten Zone", betont er.

Auch in Russland kann der Volksbund derzeit weiterarbeiten

Trotz des Krieges wurden seit Februar 2022 in der Ukraine noch 972 gefundene tote Wehrmachtssoldaten ausgebettet. 2021 waren es laut Volksbund im Jahr vor dem Krieg 1475 Tote. Das vielleicht Erstaunlichste: Selbst in Russland kann der Volksbund trotz der deutsch-russischen Spannungen wegen der Ukraine-Unterstützung weiterarbeiten. Und dort tauchen immer wieder Massengräber mit deutschen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg auf, wenn etwa eine große Baugrube für ein Einkaufszentrum ausgehoben wird.

Wolfgang Schneiderhan, Präsident des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge (rechts), hier bei einer Zeremonie mit dem litauischen Armeechef General Valdemaras Rupsys. (Foto: Alexander Welscher/dpa)

"Jüngst habe ich die Nachricht bekommen, dass wir ungefähr 40 Kilometer außerhalb von Wolgograd 3321 im Zweiten Weltkrieg gefallene Deutsche geborgen und wieder beerdigt haben", berichtet Schneiderhan. Wolgograd ist das frühere Stalingrad, die Vernichtung der deutschen 6. Armee durch sowjetische Truppen und die Kapitulation Anfang 1943 war einer der Wendepunkte des Krieges. "Wir arbeiten in Russland auf einer sehr niedrigschwelligen Ebene, aber wir arbeiten", betont Schneiderhan. Dennoch wurden allein in diesem Jahr laut Volksbund bereits mehr als 5750 tote deutsche Soldaten geborgen.

Schneiderhan war von 2002 bis 2009 der 14. Generalinspekteur der Bundeswehr. Er erinnert sich noch gut daran, wie man große Hoffnung in Wladimir Putin setzte. Ihm fehlt bei denen, die heute über die Russlandpolitik den Stab brechen, das Hineinversetzen in die damalige Lage. "Da haben wir uns kollektiv getäuscht", sagt er, "aber wir waren voller Hoffnung, dass wir über diese Politik in Russland etwas zugunsten der Menschen verändern können." Das sei vielleicht eine Illusion gewesen, sagt er. "Es gab eine Phase, noch unter Boris Jelzin, als manche von Russland in der Nato geredet haben." Damals habe man gehofft, dass sich das Verhältnis endgültig von einer Gegnerschaft zu einer Partnerschaft entwickeln würde, räsoniert Schneiderhan. "Und das ist zerstört worden."

Bei Workcamps erreicht der Volksbund Tausende Schüler aus ganz Europa

Schneiderhan weist zudem darauf hin, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen, Stichwort Erdgas, "auch zu unserem Wohlstand beigetragen haben". Da habe sich lange Zeit niemand darüber aufgeregt.

Wenn Schneiderhan mit Schülern rede, sage er immer: "Ein Krieg bricht aus" - das sei eine falsche Formulierung. "Krieg bricht nie aus. Ein Krieg wird von Menschen vorbereitet, in allen Facetten bis zur rechtzeitigen Verächtlichmachung des späteren Gegners, bis hin zur Wirtschaft, bis hin zur Aufrüstung." Das sei nicht wie ein Gewitter. Für die russische Gesellschaft sei noch nicht ausgemacht, wie sie langfristig damit fertigwerden wolle, was Russen im Augenblick anrichten, was da sichtbar werde. "Da gibt es Parallelen zu uns. Wie lange haben wir gebraucht, bis wir erkannt haben, dass sich die Wehrmacht hat auch missbrauchen lassen? Die Geschichte steht ihnen noch bevor. Das ist ganz klar", sagt er.

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Die Rückkehr des Krieges führt zu einem neuen Interesse bei jungen Leuten für den Volksbund. Das braucht es auch, um die Arbeit fortzuführen. Das Auswärtige Amt unterstützt die Arbeit mit derzeit rund 18 Millionen Euro. Bei Jugendbegegnungen und Workcamps erreicht der Bund pro Jahr mehr als 18 000 Schülerinnen und Schüler aus ganz Europa. Wenn diese auf Friedhöfen Grabsteine vom Moos befreien, stellten viele fest, "Donnerwetter, der war so alt, wie ich jetzt bin", sagt Schneiderhan.

Er stellt sich mit Blick auf den Ukraine-Krieg und das zeitlose Versöhnungsziel eine Rolle des Volksbundes als Mittler vor. Mit ganz einfachen Dingen. "Ich habe bemerkenswerte Briefe von jungen Leuten, die waren in einem Arbeitseinsatz vom Volksbund in Polen", erzählt er. Mit dabei seien auch Gleichaltrige aus der Ukraine und Russland gewesen. Jetzt sei er von ihnen gefragt worden, was aus einem Jugendlichen aus Russland und einem ukrainischen Mädchen geworden sei. "Dem nachzugehen, sie zusammenzubringen, mit anderen Jugendlichen aus Europa, das könnte interessant sein."

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