SPD-Kanzlerkandidat:Martin Schulz, (k)ein Mann der Basis

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Die SPD-Basis bei einer Veranstaltung im Willy-Brandt-Haus in Berlin (Foto: picture alliance / dpa)

Der richtige Kanzlerkandidat? Einer, der die Partei erwecken kann? Fragt man zwei SPD-Mitglieder, bekommt man zwei unterschiedliche Antworten.

Von Antonie Rietzschel, Berlin

Sigmar Gabriel will kein Parteichef mehr sein und Kanzlerkandidat auch nicht. Hannelore Gascho suchte gerade im Internet nach einem Geschenk für einen Bekannten, als die Eilmeldung kam. Wäre Schnaps im Haus gewesen, die Genossin aus Berlin-Neukölln, 69 Jahre alt, seit einem Vierteljahrhundert Parteimitglied, hätte einen getrunken. Auf den Schrecken.

Ja klar, es hatte auch an der SPD-Basis das Gerücht gegeben, Gabriel werde nicht antreten. Das wurde jedoch parteiintern dementiert. Und in Gaschos E-Mail-Postfach landete die Einladung für den 29. Januar, dem Tag, an dem die SPD ihren Kanzlerkandidaten öffentlich vorstellen wollte. Sie glaubte, es werde Gabriel. Und jetzt: kein Gabriel, sondern Martin Schulz. Recht ist ihr das eigentlich nicht.

In der SPD-Bundestagsfraktion gab es für den Machtwechsel viel Applaus. In Meinungsumfragen liegt der frühere Europaparlamentspräsident Schulz vor dem langjährigen Parteichef Gabriel. Leitartikler schreiben, Schulz habe die Chance, die Partei zu erwecken, sie mit Euphorie anzustecken. Sie vielleicht nicht zum Wahlsieg zu führen, aber doch gestärkt in die Opposition.

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An der Parteibasis sieht man das vielleicht etwas differenzierter.

Die Basis, das sind Menschen wie Hannelore Gascho. Die Sozialdemokratie lag bei ihr in der Familie. Sie wuchs in Ingolstadt auf, die Eltern waren SPD-Anhänger. Hannelore Gascho hat kein Abitur und nie studiert. Sie sollte einen ordentlichen Beruf lernen, wurde Hauswirtschafterin, arbeitete am Fließband oder stanzte Lochkarten für Computer. Schließlich schulte sie um auf Industriekauffrau. "Von meiner Sorte gibt es in der SPD immer weniger", sagt Gascho.

"Ich hätte mir gewünscht, dass er im Fernsehen mal so direkt ist wie zu uns"

Ob in der bayerischen oder jetzt in der Berliner SPD, immer öfter trifft sie jetzt auf Akademiker. Die jungen Menschen, die sich in ihrem Kreisverband engagieren, sind rhetorisch gut geschult. Gascho selbst ist Alt-68erin und ein emotionaler Mensch. Der Bauch bestimmt. Vor Kurzem in der Stadtratssitzung in Neukölln wäre sie gerne aufgesprungen, als ein Vertreter der AfD sprach. Sie habe ihm sagen wollen, was er für einen Unsinn redet. Eine Bekannte saß neben ihr und streichelte ihr die Hand. Sie blieb sitzen.

Impulsiv, eigenen Launen folgend. Damit ist Gascho Gabriel gar nicht so unähnlich. Doch den Vergleich will sie nicht gelten lassen. Er eierte ihr zu viel herum, im Umgang mit der Automobilindustrie oder beim Handelsabkommen TTIP. Sie hat ihn auch anders erlebt. Bei Treffen in Neukölln, wo er Probleme im Kiez deutlich ansprach, Herausforderungen bei der Integration von Migranten offenlegte, ohne den Populismus eines Thilo Sarrazin. "Ich hätte mir gewünscht, dass er im Fernsehen mal so direkt ist wie zu uns", sagt Gosche. Die öffentlichen Versuche sich volksnah zu geben, fand sie peinlich, aufgesetzt. An den Auftritt von Gabriel mit einer Putzfrau im Mai 2016 will sie am liebsten gar nicht mehr denken.

Dennoch hätte sie es besser gefunden, wenn Gabriel dieses Jahr als Kanzlerkandidat angetreten wäre. Diesmal bestimmt der Kopf: "Strategisch gesehen wäre es gut gewesen. Wir gewinnen diese Wahl sowieso nicht", sagt Gascho. Gabriel hätte das machen können und einem Martin Schulz die Chance geben können, innenpolitisch bekannter zu werden. "Außerdem hätten wir uns auf inhaltliche Themen konzentrieren können - statt jetzt über Personalien zu diskutieren."

"Davon haben die Leute genug"

Für eine andere Genossin von der Basis ist die Personalie Schulz der Grund, warum sie zum ersten Mal seit langem wieder Optimismus fühlt, wenn sie an ihre Partei denkt. Ina Bittroff, 56 Jahre alt, ist Buchhalterin und seit zehn Jahren in der SPD. Sie trat ein, weil sie sich im Kiez in Berlin-Spandau engagieren wollte. Ihr war klar, sie muss in die Bezirksverordnetenversammlung, wenn sie etwas erreichen will. Vor fünf Jahren wurde sie gewählt, jetzt kämpft sie gegen Armut und Arbeitslosigkeit, für bessere Gesundheitsvorsorge.

Sie ist vielleicht der Typ Parteimitglied, den Hannelore Gascho meint, wenn sie von rhetorisch geschulten Genossen spricht.

Bittroff sagt: Die SPD kann die Bundestagswahl gewinnen, jetzt, wo Martin Schulz Kanzlerkandidat wird. Sie argumentiert nicht aus dem Bauch heraus, sie argumentiert mit der Stimmung des Wählers: "Merkel sagt immer 'Wir schaffen das'", kritisiert Bittroff. "Aber Merkel sagt nicht 'So schaffen wir das'. Davon haben die Leute genug."

Bittroff sagt, Schulz sei standhaft, mitreißend, konsequent - aber nicht so polternd wie Gabriel. Das komme an bei den Leuten. Und dann ist da Schulz' persönliche Geschichte, die viele Menschen berührt. Vor seiner Politkarriere war Schulz arbeitlos und Alkoholiker. Bittroff kennt solche Biografien. Sie lebt seit ihrer Geburt in Berlin-Spandau, ein sozial schwacher Bezirk. "Ich habe gesehen, wie solche Leute unter die Räder gekommen sind. Dass er den Absprung geschafft hat, rechne ich ihm hoch an."

Und mit wem soll die SPD regieren? Bittroff hält sich bedeckt. Nur so viel: In Spandau arbeitet ein rot-rot-grünes Bündnis. Die große Koalition ist keine Option für sie - auch nicht für Hannelore Gascho. Die zuckt bei dem Gedanken richtig zusammen, presst ein "Nein" hervor. Die vergangenen Jahre? "Das tat als SPD-Mitglied richtig weh." Dann lieber Opposition, gegen Schwarz-Grün. Und in vier Jahren wieder richtig angreifen. Darauf einen Schnaps!

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