Kanzlerkandidatur:Erster Mann gegen den Abstieg der SPD

Beliebt und authentisch: Der Europapolitiker Schulz kann den Sozialdemokraten neues Selbstbewusstsein geben - und Kanzlerin Merkel freier angreifen.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Sigmar Gabriel lässt los. Sein Image ist nicht das eines Mannes, den die Leute in unsicheren Zeiten als Kanzler haben wollen. Die Werte der SPD sind in den Jahren seines Vorsitzes weiter geschrumpft. Und Gabriel wird in seiner eigenen Partei respektiert, aber wenig geschätzt. Deshalb hat er auf den SPD-Vorsitz und auf die Kanzlerkandidatur verzichtet. Er hätte keine Chance gehabt. Das sagt er selbst. Es ist eine ehrliche Einschätzung und eine respektable Entscheidung. Und sie bewirkt mal wieder einen fliegenden Wechsel an der Spitze der SPD.

Der bisherige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, soll nun Angela Merkel herausfordern. Schulz ist einer, der schon lange dabei, aber vielen Deutschen trotzdem noch fremd ist; er ist ein Quereinsteiger in die Bundespolitik, kein frisches Gesicht, aber ein relativ neues. Darin liegen Risiko und Chance dieser Kandidatur. Schulz muss beweisen, dass er der Innenpolitik gewachsen ist, dass er, der bisher den Blick von außen hatte, auch drinnen bestehen kann. In erster Linie aber muss Schulz eine lethargische und an sich selbst zweifelnde Partei wieder in Schwung bringen. Dafür könnte er sich als der richtige Mann erweisen.

Martin Schulz muss die SPD mit seiner Leidenschaft anstecken

Die deutsche Sozialdemokratie befindet sich nicht in einer Krise, sondern in einem Existenzkampf. Sie hat jene verloren, die ihr die Agenda 2010 verübeln und nicht sehen wollen, wie gut Deutschland heute im internationalen Vergleich dasteht; sie verliert Menschen an die AfD, die glauben, die Politik kümmere sich nicht um sie; und mittlerweile verliert die SPD sogar Sympathisanten an eine Kanzlerin, die sie entweder mit ihrer Flüchtlingspolitik beeindruckt hat oder die ihnen zwischen den Putins, Erdoğans und Trumps dieser Welt ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln scheint.

Sigmar Gabriel hat sich alle Mühe gegeben, diesen Niedergang aufzuhalten. Es hat ihm ganz sicher nicht an Einsatz gefehlt und nicht an Ideen. Eher hatte Gabriel von beidem zu viel als zu wenig. Er war oft Regierung und Opposition, Führung und Parteibasis in einem, auch weil er versuchte, die Nöte und Einbußen der SPD in alle Richtungen zu mildern. Genau deshalb fehlte ihm irgendwann die eine Richtung, die Richtung, die ihn und seine Partei klarer erkennbar gemacht hätte.

Sieben Jahre hat Gabriel im Vorsitz der SPD ausgehalten. Er ist einer der am längsten amtierenden Chefs geworden. Es muss ihm sehr schwergefallen sein, den letzten Anlauf auf die Macht nicht zu nehmen - und sei er noch so aussichtslos. Umso mehr ehrt ihn das Eingeständnis, dass er nicht der richtige Mann ist, die SPD in dieser Situation in den Wahlkampf zu führen. Immerhin ist Gabriel nicht weggeputscht worden - er hat sich selbst gestürzt und damit erledigt, was die versammelte Führungsriege nicht gewagt hat.

Martin Schulz - ein erstaunlicher Aufstieg

Ein Parteivorsitzender sei auch der natürliche Kanzlerkandidat, heißt es gemeinhin. Auch in der SPD hält sich diese Formel hartnäckig, obwohl die Realität sie immer wieder dementiert: Mit Ausnahme des amtierenden Kanzlers Gerhard Schröder 2002 war Rudolf Scharping 1994 der letzte SPD-Chef, der als Kanzlerkandidat antrat, also vor 23 Jahren. Oskar Lafontaine, Franz Müntefering, Matthias Platzeck, Kurt Beck und jetzt Sigmar Gabriel - die jüngere Geschichte der SPD wimmelt nur so von Parteivorsitzenden, die später nicht Kanzlerkandidaten wurden. Es muss der SPD zu denken geben, dass sie in der Zuneigung zu ihrem Führungspersonal so unbeständig ist. Und es spricht für die Not der Partei, dass sie immer wieder neue Leitfiguren kürt.

Der Neue heißt Martin Schulz. Das ist ein erstaunlicher Aufstieg, mithin ist Schulz ab sofort der erste Mann im Kampf gegen den Abstieg. Denn für die SPD geht es ja nicht um die Kanzlerschaft, auch wenn sie sich mögliche Mehrheiten mühsam herbeirechnet. Die Sozialdemokratie kämpft 2017 nach jetzigem Stand nicht um die Macht, sondern darum, überhaupt ein Faktor der Bundespolitik zu bleiben, sei es als Koalitionspartner, sei es als ernst zu nehmende Opposition. Dafür muss sie als Erstes den Glauben an sich selbst zurückgewinnen.

Martin Schulz ist in der SPD beliebt, weil er authentisch wirkt. Der Buchhändler aus Würselen, der mit den Großen der Welt am Tisch saß und keinen falschen Respekt zeigte - eine Erfolgsgeschichte. Schulz kann Angela Merkel freier angreifen, weil er der großen Koalition nicht angehört. Er kann den Sozialdemokraten neues Selbstbewusstsein geben, wenn es ihm gelingt, seine Leidenschaft, die ihn als Europäer auszeichnete, auf die Partei umzuleiten. Wenn er der SPD nach 2009 und 2013 eine neuerliche Demütigung erspart, hätte er schon viel erreicht - und wäre auch als Fraktionschef einer stolzen Oppositionspartei eine gute Wahl.

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