Im November habe es ein Superspreader-Event gegeben, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn seiner Rede in Schloss Bellevue. Dabei geht es an diesem Tag gar nicht um die Pandemie, zumindest um keine im medizinischen Sinne. Mit Blick auf die USA spricht Steinmeier von der "böswilligen Mär von der gestohlenen Wahl", die im Angriff eines bewaffneten Mobs auf das Kapitol gipfelte - und er lässt keinen Zweifel daran, wen er dafür mitverantwortlich macht, dass sich diese Lüge so gut verbreiten konnte: Facebook, Twitter und die anderen sogenannten sozialen Medien.
Psychologie:Wir sind ja unter uns
Wie sich in den sozialen Netzwerken Echokammern bilden und welche Folgen das für die Demokratie haben könnte.
Im "Forum Bellevue", einer Diskussionsreihe des Bundespräsidenten, geht es an diesem Montag um "Demokratie und digitale Öffentlichkeit - Eine transatlantische Herausforderung". In deutlichen Worten warnt Steinmeier davor, die Gestaltung digitaler Räume den sozialen Medien zu überlassen. Er ruft die Politik dazu auf, die Plattformen stärker zu regulieren. Darin liege auch eine Chance, das transatlantische Verhältnis zu erneuern.
Im Zentrum von Steinmeiers Kritik steht das werbefinanzierte Geschäftsmodell der sozialen Medien: Diese täten alles dafür, die Aufmerksamkeit der Konsumenten so lange wie möglich zu halten. Sie scherten sich aber nicht darum, mit welchen Inhalten das geschehe, ob etwas wahr oder falsch sei. "Nichts bindet Menschen offenbar so sehr an ihre Geräte wie Erregung und Empörung, Angst und Wut", sagt Steinmeier. Die Werte, auf denen jede Demokratie aufbaue, wie Respekt, Wahrheit und Verantwortungsgefühl, würden nichts gelten.
Darin sieht Steinmeier eine ernst zu nehmende Gefahr für die Demokratie, nicht zuletzt, weil ihre Feinde diese Schwachstellen gekonnt ausnutzten. Die Vorwürfe, die Steinmeier großen Tech-Konzernen wie Facebook, Youtube, Twitter und Co. macht, sind nicht neu. Aber die Klarheit, in der er sie benennt, ist bemerkenswert.
"Damit Freiheit und Demokratie gewahrt bleiben, braucht es Regeln"
Lange hätten sich die großen Plattformbetreiber gegen die Verantwortung für den öffentlichen Raum gewehrt, den sie mit ihrer Infrastruktur geschaffen haben. Sie hätten Probleme kleingeredet und keinerlei Haftung für die Inhalte auf ihren Plattformen übernommen, dabei jedoch Milliarden verdient. "Damit Freiheit und Demokratie gewahrt bleiben, braucht es Regeln", so Steinmeier.
Im Ringen um die Regeln, die für die Plattformbetreiber gelten sollen, setzt der Bundespräsident auf ein europäisch-amerikanisches Bündnis. "Dem Modell der digitalen Diktatur müssen wir eine demokratische Alternative entgegensetzen", sagt er mit Blick auf Russlands und Chinas Netzpolitik. Für die USA und für Europa sieht er dagegen die Möglichkeit, eine gemeinsame "Technosphäre" zu schaffen, die globale Standards setzen könnte. Das wäre eine Neubegründung der transatlantischen Partnerschaft, so Steinmeier.
Doch einer der Gäste, mit denen der Bundespräsident im Anschluss an seine Rede diskutiert, meldet Zweifel an, ob die USA zu einem solchen Schritt momentan bereit sind. Zwar habe der Sturm auf das Kapitol auch die amerikanische Wahrnehmung der sozialen Medien verändert, sagt der Direktor des amerikanischen Thinktanks Luminate, Ben Scott. Doch das bedeute nicht, dass die neue Regierung das Problem schnell lösen könne.
Die US-Regierung sei durch die vergangenen vier Jahre stark beschädigt worden und der Kongress tief gespalten. Die Regulierung von Digitalunternehmen stehe da nicht unbedingt oben auf der Agenda. Scott sieht die Führungsrolle bei der EU: Europa habe die Expertise, den politischen Willen, die Institutionen und einen hinreichend großen Markt, um ein entsprechendes Regelwerk durchsetzen zu können. Er sei überzeugt, sagt Scott, dass sich die Digitalkonzerne dem fügen würden, so wie andere Industrien zuvor.
EU-Kommissarin Margrethe Vestager traut Europa die Vorreiterrolle zu
Auch die dänische EU-Kommissarin für Wettbewerb Margrethe Vestager, die seit 2019 zudem geschäftsführende Vizepräsidentin und Kommissarin für Digitales ist, traut Europa eine Vorreiterrolle zu. Man habe durch die Datenschutzgesetzgebung Standards gesetzt, denen andere nun folgen. Mehr Transparenz und Verantwortlichkeit verlangt Vestager von den Plattformen und die Durchsetzung von Verbraucherrechten, so wie es sie auch in der Offlinewelt gebe. Je größer die Plattform sei, desto stärker müsse die Regulierung ausfallen, sagt Vestager.
Wie schwierig das in der Praxis aussehen könnte, darauf weist der deutsche Soziologe Armin Nassehi hin. Viele problematische Handlungen auf den Plattformen, wie das Weiterverbreiten von Lügen, spielten sich in Graubereichen ab - wer solle da entscheiden, was legal ist und was nicht? Das sei nicht nur eine technologische Frage, sondern auch eine philosophische: Die Gesellschaft müsse sich darüber klar werden, wie der öffentliche Raum der Zukunft aussehen soll.