Die Menschen, die am Freitagmittag mit weiß-roten Flaggen und unter möglichst großem Lärm durch die Warschauer Altstadt ziehen, sind eher keine Fans der EU. "Hier ist Polen, nicht Brüssel", ruft ein junger Mann mit neongelber Warnweste und kurzen Hosen ausdauernd in ein Megafon. Ein begleitender Rettungsassistent verteilt Äpfel aus einem Eimer. Anstrengend, so eine Demo, und die Teilnehmer sind aus vielen Landesteilen extra angereist. Sie demonstrieren gegen den Green Deal der EU. Aber auch gegen Donald Tusk und seine liberalkonservative Regierung.
Die Gewerkschaft Solidarność, die der PiS-Partei nahe steht, hat Menschen, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, erneut zu Protesten aufgerufen. Diesmal ohne Traktoren, aber die Parolen bleiben gleich. Sie richten sich gegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, machen auf finanzielle Nöte und die Bedeutung der heimischen Landwirtschaft aufmerksam. Einige Männer haben die hohen Stufen am Kopernikus-Denkmal erklommen und sich dort mit dem Plakat "Stoppt die Tyrannei von Tusk" postiert. Brüssel, Green Deal, von der Leyen, Tusk - für viele hier ist das offenbar ein und dasselbe Übel.
Der scheidende Kulturminister hat den Propagandakanal der PiS radikal umgebaut
Donald Tusk will nach der Parlamentswahl im Herbst und den Kommunalwahlen im April, die für seine Partei Bürgerplattform ebenfalls recht gut ausfielen, auch die Europawahl im Juni gewinnen. Nach einer aktuellen Umfrage liegt er derzeit mit der PiS-Partei fast gleichauf, mit einem haarscharfen Vorsprung. Beide um die 30 Prozent. Tusk schickt nun sogar drei seiner Minister als Spitzenkandidaten ins Rennen, auch einer seiner Koalitionspartner stellt einen Minister auf. Alle vier legten deshalb am Freitag ihr Amt nieder. Tusk berief vier neue Leute auf die Posten für Inneres und Kultur sowie ins Ministerium für Staatsvermögen und das Ministerium für Entwicklung und Technologie.
Eine recht große Kabinettsumbildung nach nur fünf Monaten Regierungszeit also. Tusk erklärte sie am Freitag mit den Worten, die Minister hätten "Mauern eingerissen", nun sei es Zeit, Ordnung zu schaffen. Kulturminister Bartłomiej Sienkiewicz etwa, der nun ins Europaparlament will, hatte innerhalb von Tagen den Lügen- und Propagandakanal der PiS, TVP Info, abschalten lassen und die Führung von TVP ausgewechselt. Mittlerweile hat ein Gericht die neuen Aufsichtsräte anerkannt. Doch das Vorgehen von Sienkiewicz war umstritten und es zeigte sich zuletzt, dass wohl nicht alle Entlassungen bei TVP ganz gerechtfertigt waren.
Sienkiewiczs Nachfolgerin ist die langjährige Direktorin der renommierten Warschauer Kunstgalerie Zachęta. Hanna Wróblewska hatte zu PiS-Zeiten ihre Stelle verloren. Ihr von der PiS eingesetzter Nachfolger wurde wiederum bereits abberufen mit der Begründung, er habe sich internationaler Zusammenarbeit verweigert und keine EU-Mittel eingeworben.
Der neue Innenminister hat schon Erfahrung mit einer großen Bedrohung: Spionage
Unter großem Druck tritt der neue Innenminister seine Stelle an. Tomasz Simoniak war bisher für die Koordination der Geheimdienste zuständig und wird nun zusätzlich Innenminister sein. Wie stark Polen anscheinend im Fokus ausländischer Geheimdienste steht, wurde erst diese Woche deutlich.
Am Montag wurde bekannt, dass sich ein Richter des Bezirksverwaltungsgerichts in Warschau ins Nachbarland Belarus abgesetzt hatte. Dort bat er den Diktator Alexander Lukaschenko persönlich um "Obhut und Schutz", so teilte er es den staatlichen, weißrussischen Medien mit. Er beklagte sich darüber, dass er sich von der aktuellen Regierung bedroht fühle, weil er mit dieser nicht einverstanden sei. Tomasz Szmydt, so heißt der Mann, war von der PiS-Regierung zum Richter berufen worden und hatte sich an der Diffamierung kritischer Kollegen beteiligt, welche die Justizreform von PiS ablehnten. In seiner Funktion habe er Zugriff auf Verschlusssachen gehabt, teilte der polnische Justizminister Adam Bodnar mit. Die Regierung will nun eine Kommission zur Untersuchung russischer und belarussischer Einflüsse in Polen einrichten.
Premier Donald Tusk sprach in einer emotionalen Rede im Abgeordnetenhaus Sejm am Donnerstag von "bezahlten Verrätern" und "Handlangern Russlands" in den Reihen der PiS-Partei, die Polen zwischen 2005 und 2007 und zuletzt von 2015 bis 2023 regiert hatte. Diese habe "seit vielen, vielen Jahren hier in Polen unter dem Einfluss russischer Interessen gehandelt". Die russischen und belarussischen Einflüsse auf die Regierung unter PiS würden nun genauestens untersucht werden, bekräftigte Tusk.
Das Interesse an der Europawahl ist eher gering
Auch im Europawahlkampf will Tusk PiS besiegen. Seine Bürgerplattform verstehe "die Interessen Europas besser als die meisten anderen europäischen Parteien von links bis rechts", sagte der Parteivorsitzende Ende April. Polen kenne die Gefahren für Europa und wisse, was dagegen zu unternehmen sei. Mit den Gefahren meint Tusk auch die illegale Einwanderung, immer wieder fordert Tusk wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen. Den EU-Asylkompromiss lehnt seine Regierung ebenso ab wie die Vorgängerregierung - vor allem wegen der Umverteilung von Flüchtlingen. Außerdem drängt Tusk auf eine gemeinsame Aufrüstung und Verteidigungsstrategie der EU.
Unter den Kommentatoren in der polnischen Presse hat die Kandidatur der vier Minister eher Befremden bis Ablehnung ausgelöst, sie brächen damit Versprechen, das Land zum Besseren zu ändern, hieß es etwa in der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita. Ziel ist es offenbar, mit möglichst bekannten Gesichtern Wähler zu mobilisieren. Das Interesse ist traditionell eher gering, bei der Europawahl vor fünf Jahren lag die Beteiligung bei knapp 47 Prozent.
Die PiS-Partei hat unter anderem den früheren Innenminister Mariusz Kamiński und dessen Staatssekretär Maciej Wąsik für die Europawahl aufgestellt. Beide waren rechtskräftig wegen Amtsmissbrauchs zu Gefängnisstrafen verurteilt, jedoch von Präsident Andrzej Duda begnadigt worden.