Haben wir ein Deutschland ein besonderes Problem mit Identität?
Wir haben eine besonders schwierige, eine komplizierte Identität wegen der NS-Diktatur und dem Holocaust. Aber das Arrangement, das wir in langen Konflikten dazu gefunden haben, ist durchaus beeindruckend und trägt: Aus Schuld wächst Verantwortung für die Zukunft einer liberalen Gesellschaft und demokratischen politischen Ordnung.
Von Rechtsaußen wird ein angeblicher "Schuldkult" beklagt.
Für die Mehrheit der Deutschen gehört es mühelos zur Identität, reflektiert, wach und ehrlich mit der Vergangenheit umzugehen. Und es bedeutet ja nicht, dass man gebückt durch die Welt geht. Wenn das Leute wie Björn Höcke anders empfinden, zeugt das davon, wie unsicher ihr Selbstverständnis ist. Höcke und seine Leute sind von Angst getrieben, und sie kalkulieren mit Ängsten.
Werden Populisten wie Höcke künftig den öffentlichen Diskurs dominieren?
Ich bin nicht so pessimistisch, was die aktuelle Diskurshoheit angeht - das zeigt auch die überwältigende Zurückweisung des neuen Antisemitismus, wie schwer dessen Bekämpfung dann auch immer ist. Manche Debatten müssen wir offenbar neu führen. Das ist sogar wichtig, um die Argumente wachzuhalten: Warum ist das Holocaust-Mahnmal in der Mitte Berlins richtig und wichtig? Wie fängt Ausgrenzung an, und was kann man dagegenhalten? Aber wir müssen nicht mehr über jedes Stöckchen springen, das die AfD hinhält.
Was für ein Deutschland propagiert diese Partei eigentlich?
Das weiß sie wohl selber nicht so genau. Das Frauenwahlrecht würde wohl nicht angetastet. Viele Forderungen würden an der Realität zerschellen, gerade in der Europapolitik. Aber klar ist doch: Nationalismus, Protektionismus, Abwehr gegenüber "Fremdem" stehen im Vordergrund, also ein Deutschland nach dem Vorbild Viktor Orbáns, eine "illiberale Demokratie". Vor allem aber: Es ist ein Weltbild des Ressentiments, mit immer neuen Verschwörungstheorien und Sündenböcken. Im Prinzip ist das ein Weltbild des permanenten Betrogenwerdens. Das Problem ist: Diese Vorstellung hat sich schon stark in die Gesellschaft eingefressen.
Das erinnert an die Behauptung, nach der "Politiker ja sowieso lügen" würden.
Diese Art von Verschwörungstheorien haben wir zu lange wuchern lassen, wir haben nicht entschieden genug widersprochen. Der politische Populismus kam erst später, aber fand in dieser Suggestion einen fruchtbaren Boden. Die Welt ist falsch, eine Verschwörung der Eliten, der Medien, der Linken, der Liberalen. So sind wir in eine Krise des Weltvertrauens geschlittert, die zugleich eine Krise des Selbstvertrauens ist. Hier begegnen sich gekränkte Männlichkeit und eine Sorge um "christliche" Werte, die einem selber längst entglitten sind. Selbstverständlich gibt es echte Probleme, und der Umgang mit Migration ist diskussionswürdig ebenso wie die Energiewende oder die weitere Vertiefung der Europäischen Union. Aber die Populisten und Verschwörungstheoretiker erreicht ein solcher rationaler Diskurs oft nicht mehr: Sie sind im falschen Film.
Wie bekommt man die Leute da wieder raus?
Natürlich kann man Sozialleistungen erhöhen, die ärztliche Versorgung auf dem Land verbessern; man kann versuchen, denen in einer offener gewordenen Welt, und offener gewordenen deutschen Gesellschaft, wieder mehr "Heimat" zu geben. Aber die AfD hat auch in Großstädten hohe Stimmanteile erreicht, und keineswegs nur bei sozial Schwachen und "Abgehängten". Alle rationalen politischen Bearbeitungsversuche stoßen an Grenzen bei Menschen, die von der Suggestion beherrscht werden, dass heute alles falsch ist und früher alles besser war. Denn oft geht es den Leuten gar nicht darum, ob ein Krankenwagen eine halbe Stunde früher an sein Ziel in der Uckermark kommt oder der Dorfbäcker wieder aufmacht. Und nicht zuletzt: Heimat hin oder her, sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass ein Muslim ihr Nachbar, eine Frau mit dunklerer Hautfarbe ihre Arbeitskollegin ist und dass sich zwei Männer auf der Straße küssen.
Was kann man denn dann tun?
Am wichtigsten ist es, bei sich selber anzufangen: Zivilcourage. Nicht schweigen, wenn jemand im eigenen Umfeld - in der Familie, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz - seine Ressentiments und Verschwörungstheorien äußert, und sei es scheinbar harmlos und leichthin. "Die Politiker lügen sowieso." "Die Flüchtlinge beuten sowieso nur unsern Sozialstaat aus, und an uns denkt niemand." Dann sollten wir sagen: Du, das sehe ich anders! Aber das erfordert Mut.