Paul Nolte im Gespräch:"Wir haben Verschwörungstheorien zu lange wuchern lassen"

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1. Mai - Cottbus

Auf einer AfD-Kundgebung zum 1. Mai in Cottbus: Tiefsitzendes Misstrauen und Verschwörungstheorien haben sich in weiten Teilen der Bevölkerung festgesetzt.

(Foto: dpa)

Ein Weltbild des permanenten Betrogenwerdens hat sich in die Gesellschaft hineingefressen, sagt der Historiker Paul Nolte. Ein Gespräch über Nährböden des Populismus, Dobrindts "konservative Revolution" und den neu-alten Antifeminismus.

Interview von Oliver Das Gupta, Berlin

Paul Nolte, Jahrgang 1963, ist Professor am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der deutschen, amerikanischen und vergleichenden Politik- und Sozialgeschichte der vergangenen 300 Jahre. Nolte ist Autor zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Beiträge, zuletzt erschien "Lebens Werk. Thomas Nipperdeys 'Deutsche Geschichte'. Biographie eines Buches" (C.H.Beck, München 2018).

SZ: In Deutschland rumort es derzeit: Rassismus wird ungeniert zur Schau gestellt, verschiedene Formen von Antisemitismus treten verstärkt in Erscheinung, autoritäre Politiker wie Wladimir Putin werden immer populärer. Erleben wir ein Déjà-vu der Weimarer Instabilität?

Paul Nolte: Mit dem Vergleich zur Weimarer Republik muss man vorsichtig sein, erst recht im Blick auf ihr Ende und den Nationalsozialismus. Das ist nicht unser Szenario. Aber es gibt Parallelen, politisch ebenso wie in Gesellschaft und Kultur.

Was ist denn heute anders als damals?

Ein wichtiger Punkt: Anders als zur Weimarer Zeit gibt es keine Straßenkämpfe. Die Gewaltbereitschaft der real ebenso wie mental militarisierten Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg war immens - vor allem auf der extremen Rechten, aber auch ganz links. Die Friedfertigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft, ihre Zivilität, ihre Toleranz ist eine Errungenschaft, ebenso wie die Demokratisierung der Eliten. Das schafft eine ganz andere Stabilität als damals.

Und welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen dem heutigen Deutschland und der ersten deutschen Republik?

Zunächst politisch: Das heutige Parteiensystem ähnelt mehr und mehr dem der Weimarer Schlussphase. Wir haben auf der linken Seite zwei Parteien, die fast gleichstark sind und nicht miteinander können. Wir haben eine radikalisierte Rechte. Und schrumpfende Volksparteien, die zusammen eben noch die parlamentarische Mehrheit schaffen. Das sind schon frappierende Ähnlichkeiten in der politischen Mechanik, die man kritisch beobachten muss. Aber wichtiger sind die Parallelen in der politischen Kultur: Populismus und Demokratieverachtung kennen wir von damals, ebenso den Kulturpessimismus und die Angst vor dem Heimatverlust.

Paul Nolte im Gespräch: Historiker Paul Nolte, seit 2005 Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin

Historiker Paul Nolte, seit 2005 Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin

(Foto: imago stock&people)

Damals hatten die Deutschen gerade einen Weltkrieg verloren - das ist doch eine andere Ausgangslage.

Stimmt, aber im rapiden Wandel und den Reaktionen darauf liegt die Ähnlichkeit. In den Jahrzehnten um 1900 veränderte sich die Welt rasant - technologisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich; bis in alle Poren von Alltag und Lebenswelt. Die Industrielle Revolution, mit Bildern von Zechen und Hochöfen und Textilfabriken, vollzog sich zunächst nur inselhaft. Am Anfang des 20. Jahrhunderts folgte eine zweite Welle der Modernisierung: der Kommunikation, der Mobilität, auch der sozialen Hierarchien - eigentlich hat sich das ganze Leben revolutioniert.

Ein kompletter Umbruch der Lebenswelt, so wie er auch durch die Digitalisierung geschieht.

Ja, und das bedeutet natürlich Zumutungen. Ein Beispiel: Ein Berliner, der 1913, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in die U-Bahn stieg, der würde sich auch heute noch in deren Netz auskennen. Aber für die Landbevölkerung, die noch mit Pferden lebte und wirtschaftete, wurde der Abstand riesig. Dazu kamen die gesellschaftlichen Veränderungen in den zwanziger Jahren, die manche verstörten, allen voran die begonnene Emanzipation der Frauen: Die trugen jetzt Hosen und die Haare kurz, sie zündeten sich auf der Straße eine Zigarette an und durften wählen. Einen ähnlichen Schock löst es heute bei manchen Menschen aus, wenn sich in Berlin-Schöneberg zwei Männer küssen.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte vor einiger Zeit eine "konservative Revolution". Können Sie erklären, welchen historischen Bezug er damit herstellen will?

Das kann man vielleicht historisch erklären, aber kaum politisch verstehen. Der Begriff trägt keine Problemlösung in sich, aber er schillert und provoziert - das ist ja auch seine Absicht. Als Reizwort, das in den zwanziger Jahren in der Weimarer Republik entstand und in den fünfziger Jahren aufgegriffen wurde, signalisiert der Begriff "konservative Revolution" ein Unbehagen in der Demokratie. Er zitiert eine Haltung, die mit dem Feuer spielt.

Worauf zielten die Forderungen nach einer "konservativen Revolution" damals?

Es ging nicht nur um den Kampf gegen links, sondern auch die Abgrenzung zum traditionellen Konservatismus. Der schwelgte in Nostalgie für das Kaiserreich, sehnte sich nach der Monarchie, nach der agrarischen und patriarchalischen Welt. Die Verfechter einer "konservativen Revolution" dagegen wollten die Demokratie nach vorne überwinden.

Und welche Staatsform wartete "vorne"?

Etwas Neues, für das damals erst Begrifflichkeiten entstanden: eine Führerherrschaft, eine Expertenherrschaft, eine autoritäre Präsidialherrschaft. Die Vorstellung einer "konservativen Revolution" ruhte auf der festen Überzeugung, dass das Ende der liberaldemokratischen Bürgerlichkeit gekommen sei.

So meint Alexander Dobrindt das sicherlich nicht, oder?

Das wollen wir annehmen; vielleicht war er schlecht beraten. Gleichwohl: Ein Ausrutscher ist das nicht. Der Begriff signalisiert einen Aktionismus, der zum Selbstzweck wird; einen kalkulierten Ausbruch aus einer Ordnung, die als ungenügend empfunden wird - also eigentlich gerade das Gegenteil von "konservativ". Diese Haltung beobachte ich mit Sorge auch in anderen politischen Lagern. Etwa bei Christian Lindner, als er die Jamaika-Gespräche scheitern ließ: Er meinte, irgendwelche dringenden Veränderungen nicht durchsetzen zu können. Aber was daran so dringlich sein sollte, blieb unklar.

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