Gipfel in Vilnius:Erdoğan gibt Blockade von Schwedens Nato-Beitritt auf

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Blockade gelöst: Recep Tayyip Erdoğan, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson am Abend vor dem Gipfel in Vilnius. (Foto: YVES HERMAN/AFP)

Der türkische Präsident will seinem Parlament das Beitrittsprotokoll so schnell wie möglich vorlegen. Zuvor hatte er noch Bedingungen für eine Zustimmung gestellt.

Von Daniel Brössler, Matthias Kolb und Hubert Wetzel, Berlin/München/Vilnius

Die Türkei hat ihren Widerstand gegen den Nato-Beitritt Schwedens aufgegeben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan veröffentlichte am Montagabend gemeinsam mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in der litauischen Hauptstadt Vilnius eine entsprechende Stellungnahme. Darin sagte Erdoğan zu, dem türkischen Parlament das Protokoll zur Ratifizierung des Beitritts zuzuleiten und sich dafür einzusetzen, dass es verabschiedet wird. Das solle "so bald wie möglich" passieren, sagte Stoltenberg.

Mit Erdoğans Zusage ist die wohl wichtigste noch bestehende Hürde für Schwedens Aufnahme in das Verteidigungsbündnis aus dem Weg geräumt. Ungarn und die Türkei sind die einzigen der 31 Nato-Mitglieder, in denen der Beitritt des nordischen Landes noch nicht durch die Parlamente ratifiziert wurde. Während Diplomaten bei der Nato den ungarischen Widerstand nicht besonders ernst nehmen und erwarten, dass Budapest einlenkt, sobald die Türkei sich bewegt, war Erdoğans Blockade ein ernsthaftes Problem, das das am diesem Dienstag in Vilnius beginnende Nato-Gipfeltreffen schwer zu belasten drohte.

Noch am Montagvormittag hatte Erdoğan sich kompromisslos gezeigt und sogar noch eine neue Forderung erhoben: Vor seinem Abflug aus der Türkei nach Vilnius verlangte er plötzlich, dass zuerst die Europäische Union ihre Gespräche mit Ankara über eine Mitgliedschaft in der EU wieder aufnehmen müsse, bevor er der schwedischen Mitgliedschaft in der Nato zustimmen könne. "Ebnet zunächst den Weg der Türkei in die Europäische Union, danach ebnen wir den Weg für Schweden, so wie wir ihn für Finnland geebnet haben", sagte der türkische Präsident.

Die Bundesregierung ist von Erdoğans Bedingung überrascht

Diese Verknüpfung von zwei Beitrittsprozessen, die nichts miteinander zu tun haben, erwischte die Nato-Verbündeten der Türkei und die Allianz selbst weitgehend kalt. Bisher hatte Erdoğan seinen Widerstand gegen Schwedens Beitritt damit begründet, dass die Regierung in Stockholm nicht hart genug gegen "Terrororganisationen" vorgehe - sprich: die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. So lebten in Schweden türkische Staatsbürger, gegen die in der Türkei ermittelt werde, beklagte Erdoğan. Es handelt sich größtenteils um Kurden. Die schwedische Regierung hat deswegen in den vergangenen Monaten die Anti-Terror-Gesetze verschärft und auch ein bestehendes Waffenembargo gegen die Türkei aufgehoben.

In den vergangenen Tagen hatten Nato-Diplomaten verhältnismäßig optimistisch auf die Türkei und Schweden geschaut. Erdoğans wenig versöhnlichen Äußerungen vom Montag kamen daher schon fast einem diplomatischen Affront gleich - nicht nur gegenüber Stockholm, sondern gegenüber der gesamten Nato. Generalsekretär Stoltenberg, der in diesem Jahr schon die Aufnahme Finnlands in die Allianz über die Bühne gebracht hat, ließ sich allerdings nicht entmutigen.

Er traf sich am Montagnachmittag zwei Mal mit Erdoğan und Kristersson. Die trilateralen Gespräche wurden am Abend unterbrochen, damit sich Erdoğan mit dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel treffen konnte. Diese sagte der Türkei eine "Revitalisierung der Beziehungen" zu. Die EU und die Türkei haben 1999 Verhandlungen über eine Aufnahme des Landes begonnen, diese liegen aber seit Jahren auf Eis, weil Erdoğan zunehmend autokratisch regiert. Um die Verhandlungen offiziell fortzusetzen, müssten sowohl die EU-Regierungen als auch das Europaparlament entsprechende Beschlüsse fassen.

Die USA reagierten erfreut über die Zusage der Türkei: US-Präsident Joe Biden bei der Begrüßung durch Litauens Präsident Gitanas Nausėda in Vilnius. (Foto: Susan Walsh/AP)

Viele Nato- und EU-Länder reagieren offen ablehnend auf Erdoğans Vorstoß. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am Montag in Berlin, dem Beitritt Schwedens in die Allianz stehe, "wenn man Fakten anschaut", nichts entgegen. Die Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei sei hingegen eine, "die damit nicht zusammenhängt".

Dass Schwedens Nato-Beitritt und eine Aufnahme der Türkei in die EU "getrennte Fragen" seien, hieß es am Montag auch aus dem US-Außenministerium. Bei der amerikanischen Regierung hatte Erdoğan seine Idee, die beiden Themen zu verknüpfen will, bereits am Sonntagabend in einem Telefonat mit Präsident Joe Biden deponiert. Als Themen des Gesprächs nannte Erdoğans PR-Team in einer Presseerklärung danach neben Schwedens Aufnahmewunsch, der "Position der Ukraine in der Nato" und der von Ankara ersehnten Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen durch die USA auch "den Prozess der Türkei für eine EU-Vollmitgliedschaft".

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Erdoğan teilte Biden auch mit, dass Schweden zwar durch eine Verschärfung der Terrorgesetze "einige Schritte in die richtige Richtung" getan habe. Allerdings würden diese "zunichtegemacht", weil Anhänger der Kurdenorganisationen PKK und YPG weiter in Schweden demonstrieren und "Terror anpreisen" dürften.

Das war nicht, was Biden zu hören gehofft hatte. Entsprechend erfreut reagierte das Weiße Haus am Montagabend auf die Erklärung, in der Erdoğan den Weg freimachte für die Ratifizierung des Beitrittsprotokolls. Zudem sagte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan, dass die US-Regierung nun in Abstimmung mit dem amerikanischen Kongress die Übergabe von F-16-Jets an die Türkei in die Wege leiten werde - ein klares Zeichen dafür, dass der schwedische Nato-Beitritt auch zwischen Washington und Ankara Gegenstand eines Deals gewesen war.

Erdoğan legt sich politisch auf Schwedens Nato-Beitritt fest

Wie schnell Schweden nun tatsächlich Vollmitglied der Nato werden wird und wann es unter dem Schutz der militärischen Beistandsverpflichtung der Allianz steht, ist noch unklar. Sowohl Erdoğan als auch sein ungarischer Kollege Viktor Orbán könnten versuchen, den Ratifizierungsprozess in ihren Parlamenten noch zu verzögern. Doch Erdoğans Zusage legt ihn zumindest politisch fest, neue Forderungen kann er nun kaum noch aus dem Hut ziehen. Für die Nato ist das zweitbeste Ergebnis. Das Beste wäre gewesen, wenn Erdoğan früher eingelenkt hätte und Schweden am Gipfel in Vilnius als 32. Vollmitglied der Allianz hätte teilnehmen können. Doch auch die politische Zusage Erdoğans, die Blockade zu beenden, wird in der Nato als großer Erfolg gesehen - und als Signal an Russland, dass die Allianz geschlossen ist.

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