Sicherheitspolitik der Nato:Wo die Bedrohung allgegenwärtig ist

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Lettlands Regierungschef Krisjanis Karins (m.) und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßen sich in Riga. (Foto: dpa)

In Lettlands Hauptstadt Riga beraten die Außenminister der Nato-Staaten, wie sie auf Russlands aggressives Verhalten und hybride Attacken aus Belarus reagieren sollen.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Wenn sich an diesem Dienstag die Außenminister der 30 Nato-Staaten in Riga versammeln, erwächst aus der lang geplanten internationalen Agenda und den aktuellen Ereignissen politische Symbolik. In der Hauptstadt Lettlands fühlt man sich wie in den anderen baltischen Staaten und Polen ohnehin schon stärker von Russland bedroht als in weiter westlich gelegenen Mitgliedstaaten der Verteidigungsallianz.

In den vergangenen Wochen aber hat sich diese Wahrnehmung weiter zugespitzt, so wie seit der russischen Invasion auf der Krim nicht mehr: Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko schickt zumindest mit Billigung des Kreml vom Militär begleitet Flüchtlinge an die Grenzen Polens, Litauens und Lettlands. Und Russlands Präsident Wladimir Putin zieht nahe der umkämpften Ostukraine schweres Kriegsgerät und Zehntausende Soldaten zusammen.

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Offiziell stehen fünf Themen zur Beratung, aber außer bei der Nachbearbeitung des Afghanistan-Einsatzes dürfte das angespannte Verhältnis zu Moskau bei allen Punkten direkt oder indirekt eine Rolle spielen - bei den Gesprächen über ein neues strategisches Konzept für das Bündnis ebenso wie den Beratungen zur Situation auf dem westlichen Balkan. Und mehr noch bei der gemeinsamen Sitzung mit den Außenministern der Ukraine und Georgiens und der Auftaktrunde Dienstagnachmittag, deren Thema Russland ist.

Die US-Regierung von Präsident Joe Biden ist alarmiert über den Aufmarsch von inzwischen etwa 90 000 russischen Soldaten in einem Gebiet, das weniger als 300 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt liegt. Erst am Freitag hatte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan mit dem Büroleiter des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij telefoniert. Da hatte der gerade von angeblichen Umsturzplänen berichtet. Der Geheimdienst habe Gespräche abgehört, in denen Vertreter Russlands den reichsten Oligarchen der Ukraine, Rinat Achmetow, für einen Putsch Anfang Dezember zu gewinnen versuchten. Sowohl Achmetow als auch Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow dementierten jegliche Beteiligung.

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An der Grenze zu Russland stünden 115 000 russische Soldaten. Im schlimmsten Fall versuche Russland, die Grenzen in Europa mit Gewalt neu zu ziehen, sagt der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba.

Anspielungen auf die Invasion der Krim 2014

Karen Donfried, die im US-Außenministerium für Europa zuständige Spitzendiplomatin, sagte, es sei jetzt an der Nato zu entscheiden, welche Schritte sie als Nächstes unternehmen wolle. Ihr Chef, Außenminister Antony Blinken, werde über "unsere Einschätzung der Geschehnisse an der russischen Grenze zur Ukraine sprechen", kündigte sie an. Zwar kenne man Putins Absichten nicht, lautet dessen Position. Allerdings kenne man "Putins Drehbuch" und wisse, was in der Vergangenheit passiert sei - eine Anspielung auf die Invasion der Krim im Jahr 2014. Die Ukraine gehört der Nato nicht an, und Biden steht vor der Frage, wie weit er gehen würde, dem Land beizustehen gegen eine weitere Aggression Russlands.

Die US-Regierung ist besorgt, dass Putin noch einmal versuchen könnte, mit militärischen Mitteln den Status quo im Donbass und der Region Lugansk zu verändern, wo der Kreml separatistische Kräfte unterstützt und den Krieg gegen die Ukraine organisiert. Eine Invasion steht auch nach US-Einschätzung zwar nicht unmittelbar bevor, ist aber ein mögliches Szenario, wenn die Böden in der Region durchfrieren und die schweren Verbände der russischen Armee größere Bewegungsfreiheit jenseits befestigter Straßen genießen. Sie könnten dann mit leichteren Einheiten verstärkt werden und binnen weniger Tage auf ukrainisches Gebiet vorrücken. In Kiew warnte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Montag vor einem möglichen Einmarsch Russlands: "Im schlimmsten Fall versucht Russland, die Grenzen in Europa mit Gewalt neu zu ziehen, wie es das 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine bereits tat." Er sprach zudem von 115 000 russischen Soldaten, die sich im Grenzgebiet aufhielten.

Die US-Regierung erwägt, als Reaktion auf den Aufmarsch die militärische Unterstützung für die Ukraine auszuweiten und etwa Luftabwehr bereitzustellen. Auch neue Sanktionen gegen Moskau werden diskutiert; sie könnten den Handel mit russischen Staatsanleihen weiter erschweren oder den Energiesektor treffen, Russlands wichtigste Einnahmequelle. Zugleich bekräftigen die USA die Beitrittsperspektive der Ukraine für die Nato, auch wenn bis dahin selbst nach Einschätzung Washingtons noch viel Zeit vergehen dürfte. Putin dagegen betrachtet das Land als russisches Einflussgebiet und will eine Einbindung in die Allianz verhindern.

Andere Optionen seien, US-Militärübungen in Europa zu reduzieren, die der Kreml regelmäßig als Provokationen kritisiert, und eine aktivere Rolle der USA in der Ukraine-Diplomatie. Bislang hatte Washington das Dossier vor allem Deutschlands scheidender Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron überlassen. Sie waren aber am Widerstand Moskaus mit ihrem Versuch gescheitert, ein Außenministertreffen oder sogar einen weiteren Gipfel mit der Ukraine im sogenannten Normandie-Format zu organisieren.

Das 2015 von der Gruppe ausgehandelte Minsker Abkommen sieht neben einem Waffenstillstand den Abzug schwerer Waffen und weitere Schritte zu einer Befriedung des Konfliktgebietes vor, ist aber nicht umgesetzt worden. Zuletzt häuften sich Verstöße gegen die Waffenruhe. Biden erwägt offenbar auch ein weiteres zumindest virtuelles Treffen mit Putin vor dem Jahreswechsel. Blinken könnte am Rande einer OSZE-Tagung am Donnerstag in Stockholm darüber mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow sprechen.

"Kein Nato-Verbündeter ist auf sich allein gestellt", sagt Stoltenberg

Auch die Krise an der Grenze mit Belarus ist nach Einschätzung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch nicht überstanden. Zwar wurden in den vergangenen Tagen Hunderte Migranten zurück in den Irak geflogen. Die Intensität sei nicht mehr "so gravierend wie noch vor ein paar Tagen", sagte Stoltenberg im lettischen Fernsehen. "Aber ich denke, es ist zu früh, um zu sagen, dass es vorbei ist." Zusammen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stattete er Litauen und Lettland am Wochenende Besuche ab.

"Ich möchte Ihnen hier die volle Solidarität der EU mit Litauen, Polen und Lettland in diesen sehr herausfordernden Zeiten versichern", sagte von der Leyen am Sonntag nahezu wortgleich bei Besuchen in Vilnius und Riga. Auch Stoltenberg betonte, "kein Nato-Verbündeter ist auf sich allein gestellt". Litauens Präsident Gitanas Nausėda und Lettlands Regierungschef Krišjānis Kariņš bezeichneten den gemeinsamen Besuch von Stoltenberg und von der Leyen in Vilnius und Riga als "sehr wichtiges Zeichen".

Nausėda forderte von der Nato, die Beziehungen zu Belarus neu zu bewerten. Das Militär des Landes sei zunehmend integriert in die russischen Streitkräfte. Das stelle die Nato vor neue Herausforderungen. Sie solle entsprechend "ihre Pläne, Strategie und Taktik anpassen, um bereit zu sein zu antworten", forderte er. Belarus werde die Einheit von Nato und Europäischer Union auch weiterhin testen. Dies gelte auch für die Fähigkeit, hybriden Angriffen entgegenzutreten.

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