Prozessbeginn:Behörden wollen wichtigste Menschenrechtsorganisation Russlands auflösen

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Geschlossenes Verfahren: Wer den Prozess am Moskauer Stadtgericht am Dienstag verfolgen wollte, musste draußen bleiben - offiziell aufgrund von Corona-Schutzmaßnahmen. (Foto: Dimitar Dilkoff/AFP)

Memorial ist ein doppelter Störfaktor für Präsident Putin. Mit dem Prozess sendet der Kreml nach Ansicht einer Historikerin auch ein Signal an Deutschland.

Von Silke Bigalke, Moskau

Sie warten vor dem Gerichtsgebäude, bei Eiseskälte, weil mal wieder niemand in den Saal gelassen wird, weder Unterstützer noch Journalisten. Das Moskauer Stadtgericht begründet seine Verschlossenheit mit Corona, dem Staatsanwalt dürfte sie gelegen kommen. Er möchte Memorial auflösen, die wichtigste Menschenrechtsorganisation Russlands. Schon der Antrag löste Entsetzen im Land und Proteste in Europa aus. Der Gerichtstermin dauerte keine Stunde. Was dann nach außen drang, ließ die Staatsanwaltschaft nicht gut aussehen, beispielsweise war ein Gutachten offenbar aus dem Internet abgeschrieben worden. Der Richter vertagte die Anhörung, was wenig heißt. Selten entscheiden russische Gerichte gegen die Behörden.

Memorial musste schon viele Angriffe überstehen, dieser aber hat eine neue Qualität. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft Memorial vor, wiederholt gegen Regeln verstoßen zu haben, an die sich "ausländische Agenten" in Russland halten müssen. Das ist schon deswegen zynisch, weil der Begriff des Auslandsagenten nur geschaffen wurde, um Organisationen wie Memorial einzuschränken oder notfalls abzuschaffen. Immer mehr Medien, Menschenrechtler, zivilgesellschaftliche Gruppen werden als Agenten gebrandmarkt und müssen dann nahezu unerfüllbare Auflagen einhalten, die sich zudem ständig ändern.

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Memorial trifft es mit gleich zwei Verfahren, die beide diese Woche beginnen. Sie betreffen die beiden wichtigsten Einheiten von Memorial: Das Menschenrechtszentrum, um das es am Dienstag ging, und den internationalen Dachverband, der unter anderem eine Zweigstelle in Deutschland hat. Das Verfahren gegen ihn beginnt am Donnerstag. "Memorial ist zur Abschreckung ausgewählt worden", sagte die Historikerin Irina Schtscherbakowa vom Menschenrechtszentrum vor dem Gerichtstermin. Wenn schon "eine so alte und anerkannte Organisation auf diese Weise liquidiert werden kann", sagt sie, dann könne sich niemand sicher fühlen.

Seit Jahrzehnten gilt Memorial nicht nur als Rückgrat der russischen Menschenrechtsszene, sondern auch als doppelter Störfaktor für Präsident Wladimir Putin. Denn Memorial hat zwei Ziele: Die Organisation arbeitet das Unrecht auf, das Millionen Menschen in der Sowjetunion widerfahren ist - in einer Zeit also, die der Kreml und eine Mehrheit der Russen heute gerne verklären. Zweitens prangert die Organisation Menschenrechtsverletzungen im heutigen Russland an.

Seit den 1980er-Jahren hat der Kreml den Druck ständig erhöht

Genauso wie der Kreml Freiheiten in allen Bereichen immer stärker einschränkt, hat er den Druck auf Memorial seit den 1980er-Jahren ständig erhöht. Damals gründete eine Gruppe früherer Dissidenten, unter ihnen Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, die Organisation mit dem Ziel, ein Denkmal für die Opfer Josef Stalins in Moskau aufzustellen. Seither arbeitetet Memorial die Geschichten dieser Opfer auf, gibt ihnen einen Namen, informiert Nachfahren über ihr Schicksal, öffnet Massengräber, spricht über den kommunistischen Terror.

Der Kreml aber geht mit seiner Geschichtsumdeutung den umgekehrten Weg. Für ihn zählen allein die Errungenschaften der Sowjetzeit, die wichtigste ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg. Der Stolz darauf verbindet das russische Volk wie kaum ein anderes Gefühl, Putin weiß das politisch zu nutzen. Der Kreml erinnert an Stalin vor allem als Bezwinger des Nationalsozialismus, für Kritik bleibt da kein Raum, weder wenn es um Stalins Verbrechen am eigenen Volk geht noch um seinen Pakt mit Hitler 1939. Von Russland und seinen Anführern, so das unterschwellige Signal des Kreml, geht nur Gutes aus, Heldentaten.

Wer dieses Geschichtsbild angreift, gilt als unpatriotisch. "Die Vergangenheit wird dazu benutzt, einen Mythos zu erschaffen, der zur Staatsideologie werden soll", sagt Irina Schtscherbakowa. "Natürlich stehen wir da im Weg." Ähnliches gilt für das Menschenrechtszentrum, das alle unterstützt, die in Russland wegen ihrer politischen Ansichten, Religion oder sexuellen Orientierung verfolgt werden. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft nun zusätzlich vor, "terroristische und extremistische" Gruppen unterstützt zu haben. Als "extremistisch" gelten in Russland auch die "Zeugen Jehovas" und alle inzwischen aufgelösten Organisationen des inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny. Nawalny ist einer von 420 politischen Gefangenen, die Memorial auflistet.

Immer wieder werden auch Mitarbeiter von Memorial aus politischen Gründen vor Gericht gestellt: Dem Menschenrechtler Ojub Titijew in Tschetschenien schob man Drogen unter, um ihn anschließend einzusperren. Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew in Karelien warf man Missbrauch einer Minderjährigen vor, um nicht nur seine Arbeit, sondern auch seinen Ruf zu zerstören. Er hatte zuvor Massengräber aus den 1930er-Jahren entdeckt.

Mitte Oktober stürmten etwa 40 maskierte Männer ins Haus

Das Moskauer Büro ist häufig angegriffen worden, zuletzt Mitte Oktober während einer Filmvorführung. Etwa 40 maskierte Männer stürmten ins Haus, schrien "Schande" und "nieder mit dem Faschismus", das Staatsfernsehen begleitete ihren Auftritt. "Das war nicht willkürlich oder spontan, das war orchestriert", sagt Irina Schtscherbakowa, die dabei war. Später ließen Polizei und Geheimdienst die Angreifer laufen und hielten ihre Opfer fest, befragten Schtscherbakowa und andere Memorial-Mitarbeiter bis spät in die Nacht. Ihre Anwälte stiegen irgendwann durchs Fenster, um ihnen zu helfen, denn die Flügel der Eingangstür hatte die Polizei mit Handschellen verschlossen. Das Bild steht nun symbolisch für die Geiselhaft, in die Memorial geraten ist.

So formuliert es Historikerin Schtscherbakowa: Der Kreml sende nicht nur ein Signal nach innen, sondern auch in den Westen, vor allem nach Deutschland. Dort ist die Zusammenarbeit besonders eng, Memorial beteiligt sich an Projekten in KZ-Gedenkstätten, kooperiert mit Museen und historistischen Organisationen. Egal wie sehr Europa Memorial unterstütze, "egal wie sehr ihr schreit", erklärt Schtscherbakowa die Botschaft des Kreml, "das ist unsere Geisel, wir können mit ihr machen, was wir wollen". Die Historikerin hofft, dass sich Europa davon nicht abschrecken lässt.

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