Italien:Doppelt so viele Bootsflüchtlinge wie vor einem Jahr

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Überfahrt unter Lebensgefahr: Menschen aus Afrika auf dem Weg nach Europa. (Foto: Fethi Belaid/AFP)

In Italien sind seit Januar bereits mehr als 100 000 Migranten angekommen - so viele, dass private Seeretter zur Hilfe gerufen werden. Die rechte Regierung wirkt sehr kleinlaut.

Von Andrea Bachstein

Millionen Urlauber erholen sich in diesen Wochen an den Stränden Italiens, was sich weiter draußen auf dem Mittelmeer abspielt, bekommen die meisten nicht mit: Tag und Nacht werden Migranten aus Seenot gerettet. Es sind in diesem Sommer wesentlich mehr als in den vergangenen Jahren. 103 000 Menschen kamen laut dem italienischen Innenministerium (Stand 18. August) bisher übers Meer, mehr als doppelt so viele wie zur selben Zeit vor einem Jahr. In oft seeuntaugliche Schleuserboote gepfercht, brechen sie zumeist in Tunesien auf. Etwa 40 Prozent starten weiterhin in Libyen. Ein Teil erreicht aus eigener Kraft italienische Küsten, die allermeisten indes rettet Italiens Küstenwache oder die Finanzpolizei. In die Tausende dürfte auch die Zahl derer reichen, die private Seenotretter in Sicherheit bringen.

An Land ist das Aufnahmesystem dem Zusammenbruch nahe. Es gab Tage, da kamen allein auf der Sizilien vorgelagerten Insel Lampedusa 1600 Menschen an. Sie ist Hauptschauplatz des Geschehens, vom tunesischen Sfax sind es nur rund 150 Kilometer übers Meer. Das Erstaufnahmezentrum der kleinen Insel ist vielfach überfüllt, obwohl die Migranten regelmäßig auf die Hauptinsel Sizilien verlegt werden. In Porto Empedocle wurde eine Zeltstadt errichtet, um die Bootsflüchtlinge irgendwie unterzubringen. Schon mangelt es an Bussen, um sie von hier aus aufs Festland zu bringen.

Von der rechten Regierung Giorgia Melonis ist zu alldem wenig bis nichts zu hören. Dabei war das Eindämmen der "illegalen Migration" eines der Hauptthemen, mit denen Melonis Fratelli d'Italia und die Lega von Matteo Salvini bei der Wahl vor knapp einem Jahr punkteten. Die privaten Organisationen (NGOs), die mit Schiffen Seenotrettung leisten, hatten die Rechtsparteien besonders im Visier.

Obwohl längst bekannt war, dass sie nur etwa zwölf Prozent der Bootsflüchtlinge bringen, wurden sie angeprangert als Hauptverursacher der Ankünfte von Flüchtlingen und Migranten. Im Februar, nachdem beim Untergang eines Flüchtlingsboots nahe dem kalabrischen Ort Cutro 91 Menschen ums Leben kamen, wurden unter Federführung des Innenministers Matteo Piantedosi Gesetze erlassen, die die Arbeit der NGOs einschränken. Den Hilfsschiffen werden Häfen zugewiesen, die weit entfernt vom Einsatzgebiet liegen; für die Helfer bedeutet das tagelange Fahrten nach Ancona, Ravenna oder La Spezia und zurück - und folglich weniger NGO-Einsätze. Für die traumatisierten Geretteten ist es eine zusätzliche Belastung.

Die Küstenwache darf die privaten Seenotretter nicht um Hilfe bitten. Sie tat es jetzt trotzdem

Die Küstenwache-Leute sind mit allen Kräften im Einsatz, aber das reicht oft nicht mehr. So wurden in den vergangenen Wochen mehr als 100 Mal private Seenotretter beauftragt, einzugreifen. Das gab es immer schon, die Küstenwache ist nicht der Feind der NGOs. Doch jetzt durften diese, was die gegen sie gerichteten Gesetze verbieten: mehrere Rettungsaktionen unternehmen, ohne dazwischen einen Hafen anzulaufen. So leistete die Ocean Viking von SOS Méditerranée nach eigenen Angaben Mitte August innerhalb von 48 Stunden 15 Einsätze und konnte 623 Gerettete in den günstig gelegenen Ort Porto Empedocle bringen. Alles in Absprache mit den Behörden.

Die Regierung, eingeholt von der Realität, schweigt erst mal. Doppelt so viele Bootsmigranten und die Unverzichtbarkeit privater Seenotretter widerlegen, was Premierministerin Meloni und andere Regierungsmitglieder versprochen hatten: dafür zu sorgen, dass weniger Migranten kommen. Über Jahre taten die Rechtsparteien, als gäbe es einfache Lösungen für die komplexen Gründe, aus denen Menschen um jeden Preis nach Europa wollen.

Meloni hat durchaus auch versucht, politisch zu handeln. Sie war mehrmals in Tunesien, auch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, um das Land zu einer besseren Zusammenarbeit zu bewegen, damit die Migration eingedämmt werden kann. Absichtserklärungen wurden im Juli unterzeichnet, finanzielle Hilfe und eine strategische EU-Partnerschaft angekündigt. Gebracht hat es nichts, was an Tunesiens Präsident Kaïs Saïed liegt. Gespräche Melonis in Libyen führten ebenfalls zu nichts.

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In Italiens Städten und Gemeinden, in die die Migranten nach der Erstaufnahme weitergeleitet werden, rumort es zunehmend. Dort weiß man nicht mehr, wohin mit den Menschen. Die Regierung in Rom hat keinen Plan, obwohl seit Monaten absehbar war, dass die Zahl der Migranten in diesem Jahr sehr hoch werden würde. Der sozialdemokratische Regionspräsident der Emilia-Romagna, Stefano Bonaccini, machte der Regierung schwere Vorwürfe, auch Bergamos Bürgermeister, Giorgio Gori, ebenfalls Sozialdemokrat, empörte sich über fehlende staatliche Planung, die die Gemeinden in Schwierigkeiten bringe. Sauer auf die rechte Regierung sind aber auch Bürgermeister aus dem eigenen Lager. Sie melden sich verstärkt aus dem Lega-regierten Veneto, wo es bei Verona schon Zeltstädte gibt. Vor allem kleinere Gemeinden fühlen sich finanziell und organisatorisch überfordert, man lade Flüchtlinge am Rathaus ab, als wären es Pakete, sagte ein Bürgermeister. Der Regionalvorsitzende der in Rom mitregierenden Lega sprach gar von "feindseligem Handeln" der Regierung.

Nach der Sommerpause wird sich die Regierung wohl äußern müssen. Man geht davon aus, dass am Jahresende 150 000 Migranten an Italiens Küsten angekommen sein werden. Ungefähr 2000 Menschen haben das nach Angaben der Internationalen Migrationsorganisation (IOM) nicht geschafft - so viele sind im zentralen Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst.

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