Das Politische Buch:Verkrampfte Freundschaft

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Plakativ, aber auch intensiv? Teilnehmer an einer Demonstration zur Solidarität mit Israel stehen im Jahr 2021 mit der Flagge Israels vor dem Brandenburger Tor. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Michael Wolffsohn seziert 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen, indem er seine eigenen Thesen von 1988 kritisch überprüft. Von seinem damaligen Optimismus ist wenig übrig.

Rezension von Ludger Heid

Vor wenigen Tagen feierte Israel seine Staatsgründung vor 75 Jahren. Ein guter Anlass für Michael Wolffsohn, 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung von "Ewige Schuld?" eine Neuauflage seines Essays vorzulegen, fast doppelt so umfangreich wie die Erstfassung. Handelt es sich um eine "selbstverliebte Selbstbespiegelung" oder um "Selbstkritik", wenn er die Chuzpe besitzt, sein eigenes Buch dreieinhalb Jahrzehnte später der Öffentlichkeit erneut zuzumuten? Für ihn ist die Neuauflage ein "wissenschaftlich rationales Abenteuer", das deutsch-jüdisch-israelische Thema eine mehr denn je "umstrittene und polarisierende" Res publica - ein Seismograf.

Die hinzugefügten Ergänzungen sind typografisch blau hervorgehoben, um dem Leser Gelegenheit zu geben, wie Wolffsohn schreibt, "Sinn und Unsinn" seiner Analysen, Bewertungen und Vorhersagen aus dem Jahr 1988 zu überprüfen. Ohne Kritik und Selbstkritik demaskiere sich Wissenschaft "als Popanz oder Propaganda". Ein redlicher wissenschaftlicher Anspruch. Was ein bestens unterrichteter Michael Wolffsohn zu sagen hat, scheint wie aus dem Innerzirkel deutsch-jüdischer Regierungspolitik zu stammen.

Weder Verdrängen noch Sühnerituale helfen

Michael Wolffsohn, 1947, fast auf den Tag genau ein Jahr vor der Staatsgründung Israels in Tel Aviv, geboren, ist ein universell gebildeter Historiker, Publizist und als identitäts- und erinnerungsstiftender Kulturpolitiker praktisch tätig. Wenn er die deutsch-israelischen Beziehungen einer kritischen Bestandsaufnahme unterzieht, dann beschreibt er zugleich seine eigene Geschichte. Wolffsohn bezeichnet sich als "einen kosmopolitischen deutsch-jüdischen, mit Israel stark verbundenen Patrioten", der für einen entkrampften Umgang mit der Geschichte plädiert: Weder Verdrängen noch routinierte Sühnerituale hülfen den Nachgeborenen, meint er, sondern nur die Einsicht in die Besonderheit der Vergangenheit, die beide Seiten aneinanderbindet - im Guten wie im Schlechten.

Israels Existenz ist ein Störfaktor der deutschen Außenpolitik, der deutschen Politik schlechthin. Sie konfrontiert nämlich die Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Geschichte. Mit dieser axiomatischen Aussage begann Wolffsohn den Hauptteil seines Essays 1988, an der er auch 2023 nichts geändert hat. Normale, das heißt pragmatisch bestimmte staatliche Interessenpolitik, wird im Heute durch das gegenwärtige, nicht vergehende Gestern erschwert, ist manchmal sogar unmöglich. Gleichwohl hat sich die deutsche Außenpolitik - jenseits der Merkel'schen Doktrin, wonach die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei, und abgesehen von Betroffenheitsvokabular und Kranzniederlegungen in Yad Vashem - dieses Störfaktors entledigt: Nicht zuletzt die deutsche Beteiligung an antiisraelischen UN-Abstimmungen bezeugt diese Entwicklung.

Adenauer scheute ein öffentliches Schuldbekenntnis

Alles begann 1949 mit der Frage nach der sogenannten Wiedergutmachung. Eine Sühnebereitschaft oder Bußfertigkeit deutscherseits war nicht sonderlich ausgeprägt. Kanzler Adenauer wollte eine Wiedergutmachung, jedoch ohne ein öffentliches Schuldbekenntnis, wie es die Regierung Ben Gurion verlangte. Das von Israel geforderte Wort von einer "Kollektivschuld" kam Adenauer nicht über die Lippen.

Und sehr bald hieß es: Wiederbewaffnung statt Wiedergutmachung! Zahlungen an den Staat Israel, so wurde im Kabinett schwadroniert, schwöre die "Gefahr eines neuen Antisemitismus" herauf. Der war längst wieder oder immer noch da: Selbst nach Auschwitz ist der Antisemitismus in der Bundesrepublik nicht obsolet geworden. In der ersten bundesweiten empirischen Umfrage 1949 bezeichnete sich ein Viertel der deutschen Bevölkerung als Antisemiten, zwei Jahre später, 1952, war es sogar ein Drittel.

Zwischendurch auch mal gute Laune: Israels Premier David Ben Gurion und Kanzler Konrad Adenauer in New York im Jahr 1961. (Foto: imago images/UIG)

Mit nur fünf gegen vier Stimmen billigte das Kabinett am 11. Juli 1952 den Betrag von 500 Millionen Mark für diasporajüdische Organisationen. Und als beim Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen zwei Monate später der israelische Vertreter nach der Unterzeichnung eine Ansprache halten wollte, verlangte Adenauer Änderungen - er fand diese zu "alttestamentarisch". Den regierungsinternen Gegnern eines Wiedergutmachungsabkommens bescheinigt Wolffsohn, weder versöhnungsunwillig noch gar antisemitisch gewesen zu sein. Für ihn waren sie "nicht selten historisch unsensibel", dafür jedoch "wilhelminisch-polternd, zumindest germanozentrisch".

Der Optimismus, der 1988 bei der Erstausgabe von "Ewige Schuld?" beim Autor noch vorherrschte, ist nunmehr einer ernüchternden Betrachtung gewichen. Von der "Wiedergutmachung" bis zur trügerischen Normalität heute zieht Wolffsohn eine kritische Bilanz der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen. Das "zarte Pflänzchen", von dem er vor 35 Jahren in Bezug einer "Entkrampfung" gesprochen hatte, hat sich nicht zu einem stattlichen Gewächs entwickelt.

Das Deutschlandbild in Israel wurde immer heller

Im Gegenteil: Mehr Verkrampfung - allerdings mehrdimensional. Antijüdischer wie antizionistischer Extremismus von rechts und links, nicht zuletzt auch importierter islamistischer Extremismus ist weiterhin auf dem Vormarsch. Nicht zu vergessen der "gute alte Risches" aus der Mitte der Gesellschaft. Es ist merkwürdig: Israel, so Wolffsohns Diktum, ist nach wie vor einer der in Deutschland unbeliebtesten Staaten - während das Deutschlandbild der Israelis immer heller wurde. Deutschland pflegt gute Beziehungen zu Israel, verbal sowie "teilfaktisch" - aber nicht in kritischen Situationen. Berlin versteht das Verhältnis zum Judenstaat als "Staatsräson", für Wolffsohn grenzt dies scheinbar an ein Wunder. Scheinbar, nicht anscheinend.

Hinter seinen Buchtitel hat Michael Wolffsohn ein Fragezeichen gesetzt und zugleich die wechselseitigen deutsch-jüdisch-israelischen "Dämonisierungen" erwähnt. Die israelische Seite habe ihre Vorbehalte und Tabuisierungen Deutschland und den Deutschen gegenüber, so das Wolffsohn'sche Fazit, "eigentlich vollständig abgebaut". Bei (zu) vielen Deutschen hingegen sei das Wort "Freundschaft" nicht mehr als ein ritualisiertes Lippenbekenntnis.

Ludger Heid ist Neuzeithistoriker. Er lebt in Duisburg.

Michael Wolffsohn: Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen. Langen Müller Verlag, München 2023. 365 Seiten, 24 Euro. (Foto: LMV)
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