Regieren und Streiten:Die Kunst des Kompromisses

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Wenn der Preis der Sturheit höher ist als der Preis des Zugeständnisses, ist es Zeit für eine Einigung. (Foto: Imago; Collage: Niklas Keller)

Nach dem Machtwort ist vor der nächsten Verständigung: Wie Einigungen in der Politik funktionieren - und warum die Demokratie an sich schon ein Kompromiss ist. Eine Analyse.

Von Johan Schloemann

Das Machtwort des Bundeskanzlers im Atomstreit vom vergangenen Montag hinterlässt eine gewisse Erschütterung. Teils wird es als willkommene Befriedung, teils als Zeichen von Schwäche gedeutet. Es ist aber auch ein starker Indikator dafür, wie in einer Parteiendemokratie normalerweise Entscheidungen zustande kommen: durch Kompromisse.

Kompromisse sind, auch wenn sie bei vielen einen zweifelhaften moralischen Ruf genießen, die Königsdisziplin politischen Handelns. Erst wenn sie zwischen Koalitionären, innerhalb von Parteien und Ministerien erzielt sind, können sie in einem zweiten Schritt in Mehrheitsentscheidungen des Parlaments überführt werden. Auch das gelegentliche Machtwort eines Regierungschefs ist so gesehen kein autoritärer, einsamer Donnerkeil aus heiterem Himmel, sondern nur ein erzwungener Kompromiss.

Lösung oder Karambolage?

Die Entscheidung über die AKW-Restlaufzeiten wäre statt durch die Richtlinienkompetenz des Kanzlers unter etwas anderen Umständen sehr wahrscheinlich als ein regelrecht ausgehandelter Kompromiss getroffen worden. Herbeigeführt durch Zeitdruck, in Nachtsitzungen - und durch das Kalkül der Parteien, letztlich doch weniger an einer Karambolage interessiert zu sein als an einer gemeinsamen Lösung im Rahmen ihres Regierungsbündnisses.

Was also macht einen guten Kompromiss aus? Das hat Véronique Zanetti, Professorin für politische Philosophie in Bielefeld, über Jahre erforscht und kürzlich in ihrem Buch "Spielarten des Kompromisses" (Suhrkamp Verlag) beschrieben. "Kompromisse tun immer weh, besonders, wenn einem die Inhalte sehr wichtig sind", sagt Zanetti der Süddeutschen Zeitung. "Ich finde es daher nicht richtig, solche Kontroversen in einer Koalition immer als einen Fehler zu betrachten. Auch zu guten Kompromissen gehört es, dass die Parteien versuchen, so lange wie möglich auf ihrer Überzeugung zu beharren." Denn jede Position habe ihre eigene Rationalität, erklärt Zanetti. "Und dann ist ein Kompromiss kein Scheitern."

In der Politik seien Kompromisse nicht nur von ihrem Ausgang her zu beurteilen, sagt die Professorin. Damit am Ende alle das Ergebnis mittragen, brauche es auch vorher eine "minimale Vorverständigung" darüber, dass die Diskussion - auch bei ungleicher Machtverteilung - anständig abläuft. Also eine angemessene Mischung aus Verhandlungsgeschick und gutem Willen. Zanetti spricht vom "normativen Rückgrat" der Verhandlungen, trotz unterschiedlicher Interessen. Die wechselseitige Gesichtswahrung, der Verzicht auf Blamage, sorge für die Stabilität von Einigungen.

"Kompromisse tun immer weh" - aber sie seien kein Scheitern, sagt Véronique Zanetti, Professorin für politische Philosophie. (Foto: Universität Bielefeld)

Ein gewiefter Praktiker der Kompromisse in der Ampelkoalition kann diese Bedingungen bestätigen: "Alle Seiten müssen den Eindruck einer fairen Diskussion haben und sich im Ergebnis wiederfinden", sagt Johannes Vogel, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP im Bundestag. "Für Akteure, die sich wieder treffen werden, ist das wichtig, weil sonst die Findung des nächsten Kompromisses erschwert wird."

"Nicht jeder Kompromiss ist Verrat"

Wie passt da das Machtwort hinein? Johannes Vogel versucht, es neutral zu beschreiben, "ohne FDP-Brille": Er spricht von einer "Verhärtung" der Atomdebatte in den vergangenen Wochen, die teils durch die Krisenstimmung, teils durch emotionale Vorbelastung bei dem Thema entstanden sei. So sei die Entscheidung des Kanzlers ein "in der Sache für alle tragbarer Kompromiss". Aber die Art der Auflösung der Kontroverse, das Basta, "wird, glaube ich, ein Sonderfall bleiben", sagt Vogel.

Theoretiker und Praktiker der Politik sind sich jedenfalls einig: Wenn die Gesellschaft pluralistischer und die Parteien- und Koalitionslandschaft vielfältiger wird, dann sollte die Kompromissfindung nicht als faules Geschäft diffamiert werden. Natürlich erwartet man von Regierungen nicht (nur) Parteienstreit, sondern Lösungen. Und Kompromisse sind aus Sicht der Parteien meist nur die zweitbeste Lösung. Aber sowohl die politische Klasse als auch die Öffentlichkeit müssten fortan ein wenig umdenken, findet Johannes Vogel: "Nicht jeder Kompromiss ist Verrat. Und nicht jeder öffentlich sichtbare Positionsunterschied ist gleich immer ,Streit' oder gar eine Regierungskrise."

Nun ist die Welt allerdings voller drängender Probleme, die keine halbe Lösung oder gar Aufschub zu erlauben scheinen. Und große Veränderungen in der Geschichte sind oft erst durch kompromissloses Engagement möglich geworden. In der Bekämpfung der Klimakrise etwa habe sie volles Verständnis für die Aktivisten von "Fridays for Future" oder anderer Organisationen, sagt die Bielefelder Professorin Véronique Zanetti. Aber es werfe eben auch extreme Konsequenzen auf, alles sofort radikal zu ändern - vom Populismus bis hin zum Kollaps der Wirtschaft. Fürs Erreichen der Klimaziele gelte also: "Kompromisse können wir uns da eigentlich nicht leisten - trotzdem sind wir gezwungen, sie einzugehen." Das sei jedoch keine Entschuldigung für Untätigkeit.

Das Machtwort des Kanzlers "wird, glaube ich, ein Sonderfall bleiben", sagt Johannes Vogel, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP im Bundestag. (Foto: Christoph Hardt/Imago)

Ähnlich inkonsequent war die Politik in der ersten, dramatischen Phase der Corona-Pandemie, als es noch keine Impfungen gab: Der Schutz von Leben und Gesundheit ließ sich nicht kompromisslos durchziehen, weil er gegen andere Güter und Rechte abgewogen werden musste. Das, was die Juristen "Verhältnismäßigkeit" nennen - und bei der sie oft so tun, als lasse sie sich ganz objektiv ermitteln -, ist oft nur ein anderes Wort für den Kompromiss, wie Zanetti in ihrem Buch ausführt.

Könnte man einen Kompromiss mit Putin schließen?

Wenn die Zahl der Beteiligten wächst, bei der Ministerpräsidentenkonferenz etwa oder beim EU-Gipfel in Brüssel, wird die Kompromissbildung zäher - dann gibt es oft Formelkompromisse, die in Wahrheit nur Verschiebungen von Entscheidungen sind. Und verlässt man die gepflegte Welt einigermaßen wohlwollender Demokraten, wird es noch einmal ruppiger: Wie könnte man in der gegenwärtigen Lage einen Kompromiss mit Wladimir Putin schließen?

Véronique Zanetti stellt dazu diesen Vergleich an: "Nehmen wir an, jemand dringt gewaltsam in ihre Wohnung ein, die zwei Stockwerke hat, und besetzt die erste Etage. Und angenommen, Sie haben keine Möglichkeit, ihn hinauszuwerfen, dann sind Sie vielleicht irgendwann erschöpft und sagen: Okay, er kann erst mal in der ersten Etage bleiben. Kann man das als einen Kompromiss bezeichnen? Ich meine, nein!"

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Wenn Verhandlungen wie auch ihr Ergebnis unter Zwang und kompromissloser Gewalt zustande kommen, sind alle Bedingungen für einen fairen Kompromiss verwirkt. Und trotzdem kann es, wie viele historische Konflikte zeigen, manchmal moralisch geboten sein, mit Terroristen und Tyrannen zu verhandeln, um noch Schlimmeres zu verhindern.

Schon die parlamentarische Demokratie an sich, so beschrieb es der Staatsrechtler Hans Kelsen in der Weimarer Republik, ist als Regierungsform ein Kompromiss - aber ein notwendiger. Politische Entscheidungen nach harten Verhandlungen sollen Verbesserungen bringen, bedeuten jedoch in der Realität meist, dass man sich die Finger schmutzig macht und das Ideal nicht durchsetzt. Ob die Menschen aber bei wachsendem Krisendruck noch genug Verständnis und Geduld für die Kunst des Kompromisses aufbringen, ist fraglich. Trotzdem muss die Politik immer wieder dieses Kalkül anstellen: ob der Preis der Sturheit höher wäre als der Preis des Zugeständnisses.

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