August Bebel, der 30 Jahre lang Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei war, wartete sein Leben lang auf das, was er 1911 den "großen Kladderadatsch" nannte. Er glaubte an den notwendigen Verlauf der Geschichte, den zwangsläufigen Zusammenbruch des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, den Anbruch der großen Zeit der Sozialdemokratie. Dass die SPD den großen Kladderadatsch, wie derzeit, am eigenen Leib erlebt, das hätte sich Bebel nicht vorstellen können. Hätte man ihm so etwas prophezeit, er hätte geantwortet, die Linke werde niemals untergehen, man habe wohl rechts und links verwechselt. Die Möglichkeit einer Verwechslung erschien ihm nur in einer einzigen Beziehung statthaft, ja wichtig - wenn es um das Äußerliche ging. Seine Leute sollten im Reichstag genauso ordentlich gekleidet sein wie die Rechten. Er selbst betrat das Parlament nur im Gehrock. Konnte einer der SPD-Abgeordneten sich keinen schwarzen Anzug leisten, ließ ihn Bebel aus der Fraktionskasse bezahlen.
Aber rechts und links waren auch damals schon nicht so klar sortiert: Im Juli 1914 hatte die SPD noch Massendemos gegen den drohenden Weltkrieg organisiert, wenige Tage später stimmte die Partei den Kriegskrediten zu. Warum? Ihr Leiden am Stigma der "Vaterlandslosigkeit" war größer als der Wunsch, den Krieg durch Verbrüderung der europäischen Arbeiterschaft zu verhindern. Willy Brandt, der Kanzler von "Mehr Demokratie wagen", setzte 60 Jahre später seine Unterschrift unter den Radikalenerlass, mit dem Berufsverbote gegen rebellische junge Leute verhängt wurden. Warum? Es war sein Versuch, sich Flankenschutz gegen die heftigen Angriffe von rechts zu verschaffen; später erkannte Brandt das als seinen Kardinalfehler, der ihn die Glaubwürdigkeit bei der jungen Generation gekostet hatte. Links und rechts kann man nicht verwechseln? Die Agenda 2010 des Kanzlers Schröders gilt vielen als ein Werk, das die SPD erbittert bekämpft hätte, wäre es von Union und FDP gekommen. Solche Links-rechts-Richtungswechsel haben bei der SPD immer zu krisenhaften Entwicklungen geführt.
Im Jahr 1966 veröffentlichte der österreichische Lyriker Ernst Jandl seinen ersten Gedichtband, der "Laut und Luise" hieß. Dort findet sich ein kurzes Poem mit Namen "lichtung", in dem Jandl der Links-rechts-Frage nachgeht, indem er einfach die Buchstaben "l" und "r" vertauscht: "manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern. werch ein illtum!" Das Jahr der Publikation des Gedichts war das Jahr, in dem die NPD in Deutschland ihre Höhenflüge begann. Fürchtete Jandl braune Ansteckung bei anderen Parteien? Sein Gedicht handelt freilich nicht von bloßer Ansteckbarkeit, auch nicht von der Übernahme einzelner Positionen, sondern von völliger Vertauschung von links und rechts. Und es spiegelt zugleich, welcher Unfug bei der Gleichsetzung von links und rechts herauskommt. Extremismuskriterien dürfen nicht konfus und auch nicht beliebig werden.
Die CDU sollte in Thüringen mit der Linken koalieren. Das wäre die Vollendung der deutschen Einheit.
Manche in der CDU sehen schon Extremismus am Werk, wenn der Juso-Chef Kühnert von Enteignungen spricht oder Olaf Scholz nicht zum SPD-Vorsitzenden gewählt wird. Das Irre ist, dass es gleichzeitig etwa in der CDU Thüringen Bestrebungen gibt, mit der AfD ein Bündnis zu schließen - und dieses ein "bürgerliches Bündnis" zu nennen; das wäre eine Lüge, weil es die AfD der Anfangszeit als bürgerlich-rechtsliberale Anti-Europa-Partei des Vorsitzenden Bernd Lucke nicht mehr gibt. Die AfD ist radikal nach rechts gerückt, zu einer völkischen Partei geworden.
Sich mit einer solchen Partei zu verbünden, wäre die betrügerische Verbürgerlichung einer antibürgerlichen und rechtsstaatsfernen Partei. Wenn in der CDU die AfD zu diesem Zweck mit der Linkspartei quasi gleichgesetzt und darauf verwiesen wird, dass die SPD doch mit dieser auch schon koaliert habe, werden zwei gegenläufige Bewegungen verkannt: Die Linke, einst PDS, hat sich in 30 Jahren nachhaltig demokratisiert. Die AfD hat sich in nur sechs Jahren nachhaltig radikalisiert und neonazifiziert. Mit einer AfD, die - so in Thüringen Spitzenkandidat Björn Höcke - vom Tausendjährigen Reich träumt, darf man nicht zusammenarbeiten; mit einer demokratisierten Linkspartei schon. Die ist keine linke AfD; sie kokettiert nicht extremistisch, sondern agiert demokratisch.
Es gibt mittlerweile immer mehr Höckes in der AfD. Auch der neue Bundesvorsitzende Tino Chrupalla ist ein Epigone. Die AfD tut so, als würde sie Höcke aus der vorderen Linie nehmen, multipliziert ihn aber. Mit einer solchen Partei darf sich keine andere gemein machen. Es wäre dies die Nobilitierung einer Kraft, die mit Gemeinheit und Hetze Politik macht.
In CDU und FDP tut man noch immer so, als handele es sich bei der Linkspartei des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow um eine Art linke AfD. Das ist auf furchtbare Weise falsch. Die Linke, vormals PDS, hat in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Thüringen und jüngst in Bremen gezeigt, dass man mit ihr einen demokratischen Staat machen kann. Ramelow, ein evangelischer Christ, hat sich in Thüringen als ein mit Leib und Seele demokratischer Politiker erwiesen.
Es ist nun genau 30 Jahre her, dass Gregor Gysi auf dem Sonderparteitag der SED im Dezember 1989 zu deren Parteichef gewählt wurde. Er hat auf diesem Parteitag die Auflösung der SED abgelehnt und ihr stattdessen den Namenszusatz PDS gegeben - wohl auch, um das Vermögen der SED zu erhalten. Das erwies sich langfristig als Kapitalfehler, weil das die Rote-Socken-Kampagnen der Union erleichtert und dazu geführt hat, dass die SPD sich vor einem linken Bündnis im Bund so lang scheute, bis es nicht mehr möglich war. Aber: Die roten Socken sind nun gewaschen und zerschlissen. Die SED/PDS hat sich zwar nicht 1989, aber in den 30 Jahren seitdem aufgelöst. Als Linkspartei ist sie eine ziemlich bürgerliche Partei geworden. Die AfD ist das Gegenteil. Rechts und links kann man hier nicht verwechseln. Gleichsetzen schon gar nicht.
Die CDU darf nicht mit der AfD koalieren. Sie soll es mit der Linkspartei tun. Es wäre die Vollendung der deutschen Einheit.