Gesellschaftspolitik:"Reproduktive Selbstbestimmung"

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Demonstration vor dem Amtsgericht in Gießen für eine Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218 und des Paragrafen 219. Im Gericht muss sich die Ärztin Kristina Hänel verantworten wegen der Informationen auf ihrer Homepage. Der Vorwurf: Sie mache Werbung für Abtreibungen. (Foto: Boris Roessler/dpa)

Der Koalitionsvertrag sieht zwei bemerkenswerte Liberalisierungen vor: Das Werbeverbot für Abtreibungen soll gekippt und das Wahlalter auf 16 gesenkt werden.

Von Annette Zoch, München

Der Satz steht auf Seite 116, ganz knapp und lapidar am Ende eines längeren Absatzes zur "Reproduktiven Selbstbestimmung": "Daher streichen wir § 219a StGB." Damit kippen die Ampel-Parteien das umstrittene Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, das in den vergangenen Jahren viele Gerichte beschäftigt hatte.

"Die Möglichkeit zu kostenfreien Schwangerschaftsabbrüchen gehören zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung", schreiben SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag weiter. "Wir stellen die flächendeckende Versorgung mit Beratungseinrichtungen sicher." Auch online solle Schwangerschaftskonfliktberatung künftig möglich sein. Und: "Ärztinnen und Ärzte sollen öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen."

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In der Vergangenheit waren Ärzte und Ärztinnen, die auf ihren Homepages über die Möglichkeit zum Abbruch informierten, verklagt und verurteilt worden. In der vergangenen Legislaturperiode hatte die SPD schließlich nach langem Ringen einem Kompromiss mit der Union zugestimmt, wonach das Werbeverbot zwar gelockert, aber nicht ganz abgeschafft wurde.

"Unstrittig" sei die Abschaffung des Werbeverbots in der Verhandlungsgruppe gewesen, sagt Katrin Helling-Plahr, Medizinanwältin und FDP-Bundestagsabgeordnete. Sie saß in der Verhandlungsgruppe "Gleichstellung und Vielfalt", in der das Thema beraten wurde. "Wir konnten sehr befreit sagen: Das hier ist die Konstellation, die das schaffen kann."

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Schwangerschaftsabbrüche sollen künftig auch Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein: "Für Frauen ist es heute zunehmend schwer, Ärztinnen und Ärzte zu finden, die Abtreibungen vornehmen", sagt Helling-Plahr. "Wir brauchen aber diese Ärzte, und deshalb wollen wir auch eine gesellschaftliche Stimmung befördern, in der Abtreibungen als Teil der notwendigen Versorgungsstruktur verstanden werden." In diesem Sinne will man auch sogenannten "Gehsteigbelästigungen" - also Demonstrationen von Abtreibungsgegnern vor Arztpraxen - "wirksame gesetzliche Maßnahmen" entgegensetzen.

Zudem soll eine Kommission prüfen, ob Schwangerschaftsabbrüche ganz generell auf eine andere rechtliche Grundlage gestellt werden können. Bislang werden sie im Strafgesetzbuch geregelt und sind generell strafbar. Der Abbruch wird allerdings nicht strafverfolgt, wenn der Eingriff bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erfolgt und sich die Schwangere vorher hat beraten lassen. Straflos bleibt der Abbruch auch, wenn die Gesundheit der Mutter gefährdet oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist.

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) steht diesen Ampel-Plänen kritisch gegenüber: Die geplante Streichung des Werbeverbots sei "keine gute Option, um auf Schwangerschaftskonflikte zu reagieren", sagte ZdK-Präsidentin Imre Stetter-Karp. "Frauen in Notlagen zu stärken und ihre Selbstbestimmung zu sichern, ist unbedingt richtig", so Stetter-Karp. Offene Angebote für den Abbruch auf ärztlichen Websites solle es jedoch nicht geben. Das ZdK setze weiter auf die staatlich anerkannte Schwangerenkonfliktberatung, die informiere, jedoch auch "das Lebensrecht des ungeborenen Kindes betont", so Stetter-Karp.

Ein weiteres Beispiel für den gesellschaftspolitischen Wandel, der den Koalitionsvertrag durchweht, ist die Absenkung des aktiven Wahlalters: Bereits bei den Europawahlen 2024 sollen nach dem Willen von SPD, Grünen und FDP junge Menschen ab 16 Jahren mitwählen dürfen. Für die entsprechende Änderung des Europawahlgesetzes genügt den Koalitionären die einfache Mehrheit. Für die Bundestagswahlen braucht es eine Grundgesetzänderung, für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit müssten also auch Abgeordnete der Oppositionsfraktionen mitstimmen. In der Vergangenheit hatte sich bislang nur die Linkspartei dafür offen gezeigt, Union und AfD sind dagegen.

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