Kasachstan:"Ich möchte nicht, dass wir zu Belarus werden"

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Das Display in Almaty zeigt einen Angehörigen der kasachischen Sicherheitskräfte, der im Einsatz gegen Demonstranten ums Leben kam. (Foto: Gavriil Grigorov/Imago)

Kasachische Menschenrechtler fürchten um die Zukunft ihres Landes: Der Präsident entmachtet zwar Vertraute seines Vorgängers, droht aber in eine neue Abhängigkeit zu rutschen - diesmal von Putin und Moskau.

Von Silke Bigalke, Moskau

Das Leben in Almaty, sagt Galym Ageleuow, sei schon fast wieder normal. Abgesehen von den Patronenhülsen, die findet der Menschenrechtler immer noch auf der Straße. Auch die zerstörten Geschäfte und die ausgebrannte Stadtverwaltung werden noch lange an die Proteste erinnern, die Kasachstan für immer verändert haben. Es ist wieder ruhig auf den Straßen Almatys, allerdings beruhigt das kaum jemanden.

"Wir alle machen uns Sorgen", sagt Galym Ageleuow im Video-Gespräch. Seit Jahren setzt sich der Aktivist dafür ein, dass sich Kasachen friedlich versammeln, ihre Meinung sagen und frei wählen dürfen. Um diese Freiheiten ging es auch den Demonstranten vor zwei Wochen. Mehr als 10 000 Menschen sind festgenommen worden; ausgerechnet Menschenrechtlern wie Ageleuow, Aktivisten und unabhängigen Journalisten hat Machthaber Kassym-Schomart Tokajew vorgeworfen, die Ausschreitungen mit ausgelöst zu haben.

Nach tagelangen Unruhen
:Kasachstan hat neuen Regierungschef

Das Parlament stimmt für Alichan Smajilow, der den Posten bereits übergangsweise innehatte. Bei Protesten gegen die Staatsführung wurden bislang fast 10 000 Menschen festgenommen.

Dabei waren es Machtkämpfte innerhalb der kasachischen Führung, die das Aufbegehren eskalieren ließen. Anfang Januar demonstrierten Menschen in mehreren Teilen Kasachstans friedlich gegen verdoppelte Autogas-Preise und ein unbewegliches Regime. Vor allem in Almaty schlugen die Demonstrationen bald in Verwüstung um. "Religiöse Radikale, Kriminelle, Schläger, Plünderer und Hooligans" sind laut Tokajew "wie auf Stichwort" auf die Straßen geströmt. "Bewaffnete Kämpfer" hätten die Kontrolle übernommen, Gebäude der regionalen Regierung, der Strafverfolgungsbehörden, Gefängnisse, Banken, Fernsehsender und den Flughafen angegriffen.

In Almaty, berichtet Aktivist Ageleuow, haben bewaffnete Männer friedliche Demonstrierende angeleitet, den Protest koordiniert, die Menschen "mit Schlägern und Stöcken gesteuert", Straßen gesperrt. Ageleuow hält die Randalierer für "Kräfte", wie sie "von den Geheimdiensten für die Lösung ihrer Probleme herangezogen werden". Der Geheimdienst wiederum sei "in den Händen der Familie". Der Familie von Nursultan Nasarbajew.

Tokajew erteilt einen Schießbefehl

Das ist inzwischen eine gängige Theorie: Anhänger des alten Machthabers Nasarbajew sollen die Proteste ausgenutzt haben, um dessen Nachfolger Tokajew zu schwächen. Ihm hatte Nasarbajew vor knapp drei Jahren das Präsidentenamt übergeben, war nach 29 Jahren an der Macht zurückgetreten. Die Gewalt über Sicherheitsrat, Regierung und Geheimdienst behielt Nasarbajew jedoch. Einer seiner Getreuen, Geheimdienstchef Karim Massimow, wurde nun wegen Hochverrats festgenommen.

Tokajew spricht von einem versuchten Staatsstreich, ohne Namen zu nennen. "Spontane Kundgebungen wurden als Vorwand benutzt, um zivile Unruhen zu provozieren", sagte er vergangene Woche bei einem Online-Treffen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB), einem von Moskau angeführten Militärbündnis, das er zu Hilfe gerufen hatte. Dann wieder nannte er die Proteste "einen terroristischen Krieg gegen unser Land", geführt von "ausländischen Kämpfern", die nachts "die Leichen ihrer getöteten Komplizen" aus Leichenhäusern entwendeten. Man wisse, dass "internationale Terroristen" so ihre Spuren verwischen.

Das Militärbündnis schickte 2000 Soldaten, die meisten aus Russland, um den vermeintlichen Angriff von außen abzuwehren. Der Einsatz "zeigt deutlich, dass wir kein Szenario einer weiteren sogenannten Farbenrevolution erlauben", sagte Russlands Präsident Wladimir Putin beim ODKB-Treffen. Tatsächlich entledigte sich Tokajew mit Putins Hilfe offenbar mächtiger Konkurrenten im eigenen Land: Außer Geheimdienstchef Massimow verlor auch dessen Stellvertreter, Nasarbajews Neffe, seinen Posten. Auch alle drei Schwiegersöhne Nasarbajews mussten ihren Job abgeben. Einer leitete Kaz Trans Oil, ein Transportunternehmen für Erdöl, einer das Erdgasunternehmen Kasak Gas, der dritte die nationale Unternehmerkammer Atameken.

Armee und Polizei befahl Tokajew, auf den Straßen ohne Vorwarnung auf Unruhestifter zu schießen. Mehr als 250 Menschen sind nach Behördenangaben ums Leben gekommen. Zwar betont Tokajew, gegen die größere Gruppe der friedlichen Demonstranten sei niemals Gewalt angewandt worden. Menschenrechtler Ageleuow sagt dagegen: "Egal, ob es friedliche Bürger oder Banditen waren, auf alle wurde geschossen."

Die Regierung habe versucht, harmlose Demonstranten zu diskreditieren, sagt Asja Tulesowa. Sie war dabei, als die Proteste in Almaty begannen, die meisten Menschen seien friedlich gewesen. Die Aktivistin fordert unabhängige Untersuchungen samt Zeugenbefragungen: "Es ist wichtig, dass wir jetzt keine Angst haben und die Wahrheit verlangen."

Auch die Aktivistin Tulesowa wurde festgenommen

Tulesowa ging am 4. Januar in Almaty auf die Straße, weil sie die Menschen in der Stadt Schangaösen aus der Ferne unterstützen wollte. Dort, im Südwesten Kasachstans, hatten die Proteste gegen die hohen Flüssiggaspreise begonnen. Es ist nicht das erste Mal, dass Unzufriedenheit in der Region laut wird: Viele Menschen dort haben riskante, schlecht bezahlte Jobs in der Erdöl- und Gasindustrie. Vor zehn Jahren kamen bei Ausschreitungen nach einem Streik mindestens 16 Menschen in Schangaösen ums Leben.

"Das war eine Tragödie", sagt Tulesowa, die sich heute als Klimaschützerin mit der Luftverschmutzung in Almaty befasst. Früher war sie Aktivistin der Gruppe "Oyan, Qazaqstan" (Wach auf, Kasachstan)", die demokratische Wahlen, politische Konkurrenz und Reformen forderte. 2019 protestierte sie gegen die Präsidentschaftswahl, deren Sieger schon vorher feststand: Nasarbajews Nachfolger Tokajew.

Tulesowa wurde mehrfach nach Protesten festgenommen, legte im vergangenen Jahr eine Pause vom politischen Aktivismus ein. "Ich bin emotional erschöpft", sagt sie. Die Demonstrationen zu Jahresbeginn hielt sie zunächst für harmlos, dann wurde sie wieder einmal festgenommen, verbrachte die Nacht auf dem Polizeirevier und verpasste die Ausschreitungen am folgenden Tag, dem 5. Januar.

"Wir hören, dass Menschen geschlagen und festgenommen wurden, obwohl sie völlig unschuldig sind", sagt sie nun. Sie und Ageleuow befürchten, dass Tokajew die Lage ausnutzt, um Kritiker des Regimes abzustrafen. Amnesty International hat bereits von Festnahmen mehrerer unabhängiger Journalisten berichtet, darunter einem Freund von Tulesowa. "Anstatt Informationen einzusammeln, müssen Journalisten jetzt bangen, verhaftet zu werden", sagt sie.

Ist Tokajew stark genug für Reformen?

Vor dem Parlament hat Tokajew vergangene Woche umfassende Reformen versprochen: Die Wirtschaft werde man modernisieren, Bürokratie und Armut abbauen, die Einkommen sollen steigen, die Ungleichheiten schrumpfen. "Es gab eine bemerkenswerte Loslösung einzelner Exekutivorgane von den schwierigen Realitäten und Bedürfnissen der Bürger", sagte Tokajew. Solche Versprechen sind nicht neu, bisher galt Tokajew aber als zu abhängig von Nasarbajew, zu schwach für eine eigene Politik. Nun hat er seinen politischen Ziehvater zum ersten Mal öffentlich kritisiert.

Tokajew dankte Nasarbajew dafür, dass durch ihn "eine Gruppe sehr profitabler Unternehmen" in Kasachstan entstanden sei, "eine Schicht von Menschen, die auch nach internationalen Maßstäben reich sind". Nun aber sei es an der Zeit, "dem Volk Kasachstans Tribut zu zollen", sagte er. Die Unternehmer und Kasachstans Superreiche "im Schatten", wie er es formuliert, sollen nun zugunsten des Volkes Geld in eine Stiftung einzahlen.

Asja Tulesowa glaubt, die Mehrheit der Menschen habe Tokajews Rede gut aufgenommen. "Aber mit so wenig Vertrauen in die Regierung muss er alle diese Reformen so schnell wie möglich umsetzen. Die Unzufriedenheit ist noch da." Sie befürchtet, dass sich Kasachstans Machthaber von einer Abhängigkeit in die nächste begeben hat, als er Wladimir Putin um Hilfe rief. Ihre Angst vor russischem Einfluss und ähnlichen Repressionen wie im Nachbarland ist groß: "Ich möchte nicht, dass wir zu Belarus werden."

Bei Galym Ageleuow geht die Skepsis noch weiter. Er argwöhnt, dass das Militärbündnis ODKB zum gängigen Instrument wird, um "Aufstände im postsowjetischen Raum" zu bekämpfen: "Die Diktatoren Zentralasiens werden darauf zurückgreifen, um sich selbst vor ihren Völkern zu schützen."

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