Die Theologin und evangelische Pfarrerin Margot Käßmann gehört zu den bekanntesten Glaubensvertretern Deutschlands. Die 62-Jährige war mehr als zehn Jahre lang Bischöfin der Landeskirche Hannover und hielt von 2009 bis 2010 den Ratsvorsitz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
SZ: Frau Käßmann, die Corona-Politik wird derzeit am Weihnachtsfest ausgerichtet. Wie gefeiert wird, darüber entscheiden dieses Jahr Regierungen und Infektionszahlen. Wird Weihnachten damit überfrachtet?
Margot Käßmann: Damit steigt auf jeden Fall der Druck auf Weihnachten, und das tut dem Fest nicht gut. Im Moment ist ja für die Politik das Motto: Wenn wir jetzt bis zum 23. Dezember durchhalten und alle miteinander tapfer sind, dann, und nur dann, können wir als Familie gemeinsam Weihnachten feiern. Dieser immensen Erwartungshaltung wird das Fest nicht gerecht werden können. Es war schon in den vergangenen Jahren zu beobachten, dass die Weihnachtstage mit Ansprüchen überladen wurden. Schon Kinder haben erzählt, dass sie Angst vor Weihnachten mit der Familie haben, weil dann zu Hause alles besonders harmonisch ablaufen und perfekt sein soll. Und dann ist der 24.12. aber eben nicht anders als der Alltag sonst. Wenn Weihnachten in dieser Pandemie auch noch zu einem politischen Testfall wird, dann sind die Anforderungen deutlich zu hoch. Stattdessen ist es in diesem Jahr noch wichtiger als sonst, sich auf die biblische Weihnachtsbotschaft zu konzentrieren: "Fürchtet euch nicht!"
Wie würden Sie diese Botschaft auf dieses Jahr ummünzen?
Corona ist für uns alle natürlich eine große Belastung. Viele Menschen werden an Heiligabend alleine sein, auch mit ihrer Angst oder Existenznot. Die Weihnachtsbotschaft richtet sich in diesem Jahr besonders an sie. Und sie kann dieses Jahr besonders viel Halt geben.
Trotzdem fürchten sich viele Menschen vor der Pandemie, vor der Einsamkeit.
Der christliche Glaube und die Bibel erzählen von einem Leben, das um das Leid weiß. Die Vorstellung, dass ein Mensch nicht leidet und nicht krank wird, wenn er nur oft genug betet, ist einfach nicht haltbar. Ich bin überzeugt, dass es dieses Jahr sehr hilfreich sein kann, daran zu denken, dass Menschen schon unter ganz anderen Umständen Weihnachten gefeiert haben - während Hungersnöten oder Kriegen. Mich rührt beispielsweise immer wieder die Geschichte von den deutschen und britischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg an Heiligabend aus den Schützengräben gekommen sind, um zusammen Weihnachten zu feiern.
Merken Sie im Gespräch mit Gläubigen, dass Corona die Menschen zweifeln lässt?
Ich bekomme überraschend oft die Frage gestellt, ob Corona eine Strafe Gottes sei. Wir als Menschheit hätten gegen die Natur gelebt mit unseren Flugzeugen und Kreuzfahrtschiffen, und nun bestraft uns Gott für unsere Lebensweise. Als sei Corona unsere Sintflut.
Und ist sie das?
Nein. Die Bibel hat da eine ganz andere Geschichte parat. In der Erzählung von der Arche Noah sagt Gott nach der Sintflut, dass er nie wieder zerstören werde. Der Regenbogen wird zum Zeichen für das Versprechen. Gott bestraft uns nicht dafür, wie wir leben. Er schickt keine Krankheiten und keine Unfälle. Gott schickt keine Pandemie. Jesus hat für uns Menschen doch klargemacht, dass Leid nicht Folge von Schuld ist. Und er wusste, wovon er sprach, weil er selbst Leid erfahren hat.
1755 gab es an Allerheiligen in Lissabon ein Erdbeben, bei dem bis zu 100 000 Menschen ums Leben kamen. Es gilt als Ursprung des Theodizee-Problems: Viele Gläubige fragten sich, wie ein guter und allmächtiger Gott so etwas zulassen konnte. Hat die Corona-Pandemie ein ähnliches Potenzial?
Nein. Das war eine Naturkatastrophe, das ist mit Corona nicht zu vergleichen.
Warum nicht?
Wir können Erdbeben oder Tsunamis nicht Menschen anlasten. Es lässt sich erklären, wie sie entstehen, aber das "Warum?" stellt sich bei einer Naturkatastrophe noch mal viel fundamentaler, weil es jenseits von unserem Verständnis liegt. Sie passieren einfach, ohne einen menschlichen Fehler, offensichtlichen Grund oder Auslöser. Vieles, was wir bei Corona erleben, Ursache, Infektionszahlen oder die Maßnahmen, unter denen wir leiden, sind menschengemacht.
Was sagen Sie dann Menschen, die wegen Corona Zweifel haben?
Dass das Leid etwas ist, womit wir umgehen müssen. Ich denke, das haben wir in den vergangenen Jahrzehnten verlernt. Der Tod zum Beispiel ist ein Thema, das wir aus der Gesellschaft weitestgehend verdrängt haben. Trends gehen ja dahin, dass sich Menschen im Meer oder im Wald anonym bestatten lassen, damit niemand auf den Friedhof gehen muss. Dabei ist das ein sehr hilfreiches Ritual. Und dann erreichen uns auf einmal die Bilder aus Bergamo, wo das Militär Särge transportiert, oder aus New York, wo Kühllaster vor den Krankenhäusern stehen. Vor allem junge Leute sind da erschüttert, weil sie merken, dass das Leben endlich ist. Die Frage der eigenen Endlichkeit wird dann sehr konkret.
Lässt Sie die Pandemie nicht zweifeln?
Zweifeln gehört zu meinem Glauben dazu. Ich bin Lutheranerin. Luther hat die Bibel übersetzt, damit sie alle selbst lesen und sich dazu eigene Gedanken machen können. Es ging ihm um mündigen Glauben. Zu glauben heißt ja nicht, mit dem Denken aufzuhören. Auch ich frage und auch ich habe Zweifel. Wenn uns etwa Krankheit trifft, fragen viele: "Warum ich?" Dabei wäre die Frage "Warum nicht ich?" angemessen. Ich bin ja nicht vor Leid geschützt, nur weil ich gläubig oder Christin bin. Leid ist nun einmal Teil der Welt, daran ändert Glaube nichts. Er kann mir aber dabei helfen, das Leid zu verarbeiten.
Sie haben in einem anderen Interview mal gesagt, dass Gott dem Bösen gegenüber ohnmächtig ist. Wie passt das zum christlichen Glaubensbekenntnis, das sich an "Gott den Allmächtigen" richtet?
In der Theologie ist das tatsächlich eine der größten Herausforderungen: Gottes Allmacht und Gottes Ohnmacht zusammenzudenken. Daher gibt es darauf auch keine einfache Antwort. Ich glaube nicht, dass Gott alles lenkt. Er - oder sie - ist kein Marionettenspieler.
Kann Gott dann allmächtig sein?
Ja. Ich kann das apostolische Glaubensbekenntnis guten Gewissens mitsprechen, weil Gott größer ist als unsere Ohnmächte. Ich spreche da gerne mit Naturwissenschaftlern darüber, die mir dann klarmachen, wie wenig Kenntnis wir eigentlich von der Welt und vom Universum haben. Wir können noch so viele Sonden und Satelliten in die Umlaufbahn schicken, vieles werden wir nie wissen. Und das ist auch gut so. Gott ist nämlich kein Rätsel, das wir lösen können. Sondern Gott bleibt ein Geheimnis. Und mit einem Geheimnis kann ich sehr gut leben, wenn ich Vertrauen habe.