Brexit:Vielleicht doch noch ein Deal

Brexit: „Das Risiko eines No-Deal bleibt sehr real“: Noch-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Europäischen Parlament.

„Das Risiko eines No-Deal bleibt sehr real“: Noch-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Europäischen Parlament.

(Foto: FREDERICK FLORIN/AFP)
  • Bisher gibt es immer noch keine konkreten, schriftlichen Vorschläge der Briten, wie vor der Brexit-Deadline am 31. Oktober noch ein Deal geschlossen werden könnte.
  • Zuletzt mehren sich aber die Signale aus Brüssel und London, dass vielleicht doch ein neues Abkommen möglich sein könnte.
  • Ob aus den vorsichtigen Signalen aber realistische Vorschläge werden, weiß in der EU noch niemand.

Von Daniel Brössler, Björn Finke, Cathrin Kahlweit, Matthias Kolb und Alexander Mühlauer

Es war keine leichte Aufgabe für Jean-Claude Juncker. Am Mittwoch musste der EU-Kommissionspräsident im Europäischen Parlament erklären, warum es auch nach seinem Treffen mit dem britischen Premier Boris Johnson keinen Durchbruch im Brexit-Drama gibt. Dem Luxemburger blieb also nichts weiter übrig, als ein Faktum festzuhalten: "Das Risiko eines No-Deal bleibt sehr real." Zugleich gab sich Juncker sichtlich Mühe, Johnson nicht bloßzustellen. Die Atmosphäre beim gemeinsamen Mittagessen sei "freundlich, konstruktiv und zum Teil auch positiv" gewesen.

In Straßburg forderte Juncker von London erneut "konkrete, operative und schriftliche Vorschläge", wie das Sicherheitsnetz des unbeliebten Backstops alternativ gelöst werden könnte. Dieser sieht vor, dass das Vereinigte Königreich notfalls in der Zollunion bleibt, um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu verhindern. Mit einer Portion Zweckoptimismus fügte Juncker hinzu: "Ich bin nicht sicher, ob wir Erfolg haben werden, es bleibt wenig Zeit. Aber ich bin sicher, dass wir es versuchen müssen." Es waren Worte, die in London positiv aufgenommen wurden. Besonders gut gefiel britischen Diplomaten eine Aussage: Juncker erwähnte, dass er Johnson beim Brexit-Lunch gesagt habe, "keine emotionale Bindung an den Backstop" zu haben, sondern sich "nur den Zielen, denen er dient, sehr verbunden fühle".

So sieht man das auch in London. Downing Street schürt in diesen Tagen die Hoffnung auf einen doch noch geregelten EU-Austritt. Ob das bis zum Brexit-Stichtag klappt, dem 31. Oktober, ist allerdings völlig offen. Klar ist nur: Johnson braucht einen Deal. Wochenlang hatte er betont, er arbeite hart an einer Lösung, aber die britische Regierung brachte in Brüssel wenig mehr als warme Worte vor. Doch inzwischen haben sich die Handlungsmöglichkeiten des Premiers stark eingeschränkt: Da wären etwa der Verlust der Mehrheit im Unterhaus, das vom Parlament beschlossene Gesetz zur Verhinderung von No Deal und das Damoklesschwert der Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof.

Selbst Johnsons Kritiker glauben inzwischen, dass er einen Deal will

Mittlerweile glauben selbst seine Kritiker in London, dass Johnson einen Deal will; er betonte das zuletzt Dienstagnacht in einem BBC-Interview. Es bleibt ihm auch wenig anderes übrig, will er nicht das Gesetz brechen, zurücktreten - oder per Misstrauensvotum aus dem Amt gehebelt werden.

Downing Street testet in den Verhandlungen mit der EU daher eine Lösung namens "Northern-Ireland-only", wonach Nordirland sich nach dem Brexit weitgehend an die EU-Regeln halten soll. London schwebt eine "all-Ireland economy" vor, eine Art Sonderwirtschaftsraum für die irische Insel. Dem Vernehmen nach hat die britische Seite auch Papiere vorgelegt - allerdings wurden diese den EU-Verhandlern nicht überlassen. In London herrscht die Sorge, dass die Dokumente dann den Weg an die Öffentlichkeit finden. Konkrete Vorschläge dürfte es allerdings vor dem Tory-Parteitag nicht geben, und der findet erst in zehn Tagen statt. Zu groß ist in den Augen des Johnson-Teams die Gefahr, dass die eigenen Hardliner in der ERG, einer radikalen Brexiteer-Gruppe, jeden Verhandlungsansatz in der Luft zerreißen. Auch die nordirische DUP, der Kooperationspartner der Tories, ist noch nicht ganz an Bord. Johnson braucht die Stimmen der Partei trotz alledem, wenn er einen Deal durchs Parlament bringen will.

Die Skepsis ist weiterhin groß

Die DUP kann sich laut ihrer Chefin Arlene Foster eine kleine Lösung für Nahrungsmittel und Agrarprodukte vorstellen, aber nach wie vor keine Zollgrenze in der irischen See. Downing Street will den Widerstand der DUP brechen, indem ein "Stormont Lock" in den Austrittsvertrag geschrieben wird. Danach soll der Stormont, das nordirische Parlament, ein Mitspracherecht im Grundsatz und im Detail haben. Dieser Vorschlag ist allerdings aktuell nicht praktikabel: Das Parlament hat seit zweieinhalb Jahren nicht getagt, es gibt keine amtierende Regierung in Belfast. Hinzu kommt: Selbst wenn Brüssel den Nordiren ein Mitspracherecht bei neuen EU-Regeln geben würde, müsste London wohl akzeptieren, dass der Europäische Gerichtshof in Streitfällen das letzte Wort hat.

Wie auch immer Johnson sich derzeit bemüht: Die Brexit-Experten in den britischen Medien folgen derzeit dem Regierungsspin nicht. Die Skepsis ist weiterhin groß, dass Johnson alle Widerstände in der eigenen Partei und in Brüssel aushebelt, einen Deal zeitgerecht verhandeln und diesen dann auch noch durch das Unterhaus bringen kann. Die Wettbüros setzen immer noch eher auf sein Scheitern. Denn die Probleme und die Widerstände, denen der Premierminister sich gegenübersieht, sind massiv.

Auch in Brüssel ist die Hoffnung nicht besonders groß. Immerhin wird jetzt Bewegung auf britischer Seite wahrgenommen. London sei bei den Gesprächen nun bereit, sich Detailfragen zu widmen, sagte ein hochrangiger EU-Beamter. Das stelle einen Fortschritt dar. Bei den Diskussionen lägen die Positionen allerdings noch weit auseinander. Etwa bei der Frage, wie ein gemeinsamer, grenzenloser Wirtschaftsraum auf der irischen Insel aussehen soll. Für die EU bedeute dieses Ziel, dass der Brexit Geschäfte auf der anderen Seite der Grenze nicht erschweren soll, hieß es aus Verhandlerkreisen. Die Briten hingegen seien vor allem daran interessiert, den Bau sichtbarer Grenzanlagen zu vermeiden, weil dies den fragilen Frieden in der einstigen Unruheprovinz Nordirland gefährden könnte. Regelungen, die über dieses Ziel hinausgehen, würden als nicht so relevant angesehen, klagte ein EU-Vertreter.

Das Europopaparlement stützt die Linie der EU-Verhandler

Außerdem hoffen die Briten, große Teile des Grenzproblems durch den Handelsvertrag lösen zu können, der während der anvisierten Übergangsphase geschlossen werden soll. Brexit-Minister Stephen Barclay brachte eine Verlängerung dieser Periode, in der sich für Bürger und Firmen fast nichts ändert, über Ende 2020 hinaus ins Spiel. Innenpolitisch wäre eine spätere Lösung bequem, weil schwierige Entscheidungen aufgeschoben würden. Die EU will sich aber nicht auf den Erfolg der Gespräche über den Handelsvertrag verlassen und pocht darauf, vor dem Brexit eine Garantie zu erhalten, dass die innerirische Grenze unsichtbar bleibt. Und diese Garantie, diese Versicherungspolice, ist eben die in London ungeliebte Backstop-Klausel im Austrittsvertrag.

Das Europaparlament stützte am Mittwoch jedenfalls die bisherige Linie der EU-Verhandler. Bei nur 126 Gegenstimmen sprachen sich 544 Abgeordnete für eine Entschließung aus, das Austrittsdatum notfalls weiter aufzuschieben - und keinem Deal zuzustimmen, der nicht die Rechte der betroffenen Bürger schützt und die Kerninhalte des Backstop enthält. Unbedeutend ist dieses Votum nicht: Das "Ja" des Europaparlaments ist ebenso nötig wie die Zustimmung im Unterhaus in London.

No-Deal-Brexit als schlechtestes Szenario für die Wirtschaft

Wie in Brüssel ist auch in Berlin eine seltsame Stimmung zwischen Hoffen und Bangen zu spüren. Am Mittwoch informierte Bundeskanzlerin Angela Merkel die zuständigen Minister über den letzten Stand der Dinge und einen Anruf, den sie am Vortag von Johnson erhalten hatte. "Wir sind auch vorbereitet auf einen ungeordneten Austritt. Aber ich ziehe einen geordneten Austritt vor", sagte die Kanzlerin. Eine Einigung halte sie nach wie vor für möglich. Das Telefonat mit Johnson scheint Merkel in der Hoffnung bestärkt zu haben, dass ein Brexit ohne Deal tatsächlich noch verhindert werden kann. Auch die jüngsten Gespräche in Brüssel und Luxemburg sind in Berlin aufmerksam registriert worden. Die Kunde ist angekommen, die Briten hätten nun tatsächlich ernsthafte Ideen zur Lösung des Irland-Problems präsentiert, wenn auch bisher nicht schriftlich.

Da mag auch der Wunsch der Vater des Gedankens sein, denn trotz aller Bekundungen, wie gut man vorbereitet sei, ist vor allem die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen eines harten Brexits groß. "Ein No-Deal-Brexit ist das absolut schlechteste Szenario für unsere Unternehmen", warnte am Mittwoch der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang. In Deutschland könne das zu einem Wirtschaftswachstum "in Richtung null" führen. Aber auch die Aussicht auf einen abermaligen Aufschub schreckt Lang, denn das verlängere die Unsicherheit noch weiter und erhöhe die Kosten.

In Berlin wird zwar gerne betont, dass die Verhandlungen in Brüssel geführt würden. Klar ist aber auch: Beim EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober kommt es darauf an, ob die Staats- und Regierungschefs den Daumen senken oder heben. Und da sind die Rollen bereits klar verteilt. Merkel macht keinen Hehl daraus, wie sehr sie den harten Brexit verhindern will. Der französische Präsident Emmanuel Macron wiederum gibt den Hardliner. Kurz vor dem Gipfel werden sich beide zu deutsch-französischen Konsultationen treffen. Für Merkel wäre es gut, wenn sie bis dahin etwas in der Hand hätte.

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