Jemen, Nigeria, Somalia, Südsudan:Mehr Munition als Nahrung

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Jemen, Nigeria, Somalia, Südsudan, Mehr Munition als Nahrung (Video: Süddeutsche Zeitung/Wochit)

In Jemen, Nigeria, Somalia und dem Südsudan droht eine humanitäre Katastrophe. Die Krisen sind menschengemacht: Kriege werden genährt, Menschen verhungern.

Von Simon Conrad (Text), Christian Endt (Grafiken) und Laura Terberl (Video)

Eine Region leidet nach Definition der Vereinten Nationen unter Hungersnot, wenn täglich mindestens zwei von 10 000 Menschen verhungern. Auf München übertragen würde dies bedeuten, dass dort Tag für Tag 290 Menschen sterben, weil sie sich nicht ernähren können. Das bislang letzte Mal wurde diese Schwelle 2011 erreicht, damals am Horn von Afrika. Auch in diesem Jahr sind mehrere Länder betroffen: Weltweit sind 20 Millionen Menschenleben nach Angaben des Welternährungsprogramms der UN (WFP) akut vom Hunger bedroht. Am dramatischsten ist derzeit die Situation der Menschen im Jemen, Somalia, dem Südsudan und Nigeria.

Die sich anbahnende Katastrophe ist menschengemacht: Der Hunger tritt vor allem dort auf, wo gekämpft wird - oder wo Geflohene gestrandet sind und keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben. Hätten die Menschen dort nur mit den natürlichen Ursachen von Hunger zu kämpfen und nicht auch mit der vorherrschenden Gewalt, kämen Hilfsgüter schneller oder überhaupt an. In diesem Kampf um Macht, Ideologien und Ressourcen, teils von externen Akteuren angefeuert, droht das größte humanitäre Desaster seit dem Zweiten Weltkrieg.

In den am schwersten betroffenen Regionen im Jemen, Somalia, dem Südsudan und Nigeria dauern seit Jahren blutige Konflikte an, die Ernten vernichten, Lieferwege zerstören und Menschen vertreiben. Verschärft wird die Lage durch flächendeckende Dürren, die für sich allein schon eine Krise heraufbeschwören würden. Ein Überblick über die vier afrikanischen Länder, in denen Gewalt zu Hunger führt.

Der Jemen: Ein Stellvertreterkrieg macht das Leben zur Hölle

Seit 2015 tobt im Jemen ein verheerender Bürgerkrieg, durch dessen unmittelbare Folgen über 15 000 Menschen zu Tode gekommen sind, darunter geschätzt 10 000 Zivilisten. Zwei Parteien nehmen für sich in Anspruch, die rechtmäßige Regierung zu stellen: Die Houthis bekämpfen von der offiziellen Landesauptstadt Sanaa aus die Regierung Abdrabbuh Mansur Hadis, der bis Kriegsbeginn das gesamte Land regierte. Zusätzlich halten militante Islamisten große Landesteile.

Spätestens mit der Intervention der von Saudi Arabien angeführten Militärkoalition - unterstützt unter anderem durch die USA, Großbritannien und Frankreich - entpuppt sich der Konflikt als Stellvertreterkrieg, in dem die Houthis Unterstützung von Iran erhalten. Dies hat vernichtende Folgen für die jemenitische Bevölkerung: Im Jemen droht die größte Hungerkrise weltweit. Laut Welternährungsprogramm sind 17 Millionen Menschen bedroht, 6,8 Millionen von ihnen sind bereits auf der Schwelle zur Hungersnot.

Das Land im Süden der Arabischen Halbinsel, dessen Infrastruktur zerstört wird, dessen Lebensmittelversorgung aber zu 90 Prozent durch Importe aus dem Ausland gesichert wird, kollabiert. Sinnbildlich hierfür steht der Hafen in Al Hodaidah: Seit er von Houthis besetzt ist, wird er von saudischen Schiffen blockiert aus Angst, über ihn könnten auch Waffen für den Gegner importiert werden. Hinzu kommen Märkte, Straßen und Fabriken, die im andauernden Bombardement dem Erdboden gleichgemacht worden sind. Dazu plagt die Jemeniten eine aus dem Ruder gelaufene Inflation, die die Wirtschaft in Teilen des Landes zum Erliegen gebracht hat.

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Der Südsudan: Mehr Waffen als Nahrung

Rein klimatisch müsste es im Südsudan keine Hungernot geben: Der jüngste Staat der Welt bietet genug Feuchtigkeit und fruchtbaren Boden, um eine funktionierende Landwirtschaft aufrecht zu erhalten. Doch auch hier ist es ein seit Jahren währender Konflikt, der viele Einwohner des afrikanischen Landes in den Hunger treibt. In der Central Unity Provinz wurde bereits eine Hungersnot ausgerufen, 100 000 Menschen sind akut vom Tod bedroht. Bereits bis Juli könnten 5,5 Millionen Südsudanesen in eine ähnliche Lage geraten, das entspräche beinahe 50 Prozent der Bevölkerung.

Der Hunger ist eine Folge eines blutigen Machtkampfes, der das Land, das über große Ölquellen verfügt, seit der euphorischen Staatsgründung 2011 nicht loslässt. Die Unabhängigkeit vom Sudan entfesselte den alten Kampf zwischen den zwei großen Volksgruppen der Dinka, angeführt von Präsident Salva Kiir, und der Nuer, die hinter dem ehemaligen Vize-Präsidenten Riek Machaar stehen. Aufgrund der ethnischen Natur des Konflikts sprach ein Mitglied der britischen Regierung jüngst von einem Genozid im Land.

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Für Empörung sorgten zuletzt Details eines Berichts an den UN-Sicherheitsrat, die Regierung Salva Kiirs gebe trotz der humanitären Katastrophe im Land noch immer einen großen Teil des Staatshaushalts für Waffen aus. Trotz der Hungersnot sterben immer noch mehr Menschen in Kriegshandlungen als durch den Hunger. Versuche, ein globales Waffenembargo gegen den Südsudan zu verhängen, scheiterten bislang am Widerstand Chinas und Russlands. Da kein Ende der Gewalt in Sicht ist, fliehen immer größere Teile der Bevölkerung in andere Landesteile und Nachbarländer, beispielsweise in den Sudan oder nach Uganda.

Nigeria: Flucht vor Terror und Verwüstung

Spätestens seit der Entführung von 200 jungen Mädchen und zahlreichen Angriffen auf Dörfer und Militärstützpunkte ist die Terrorherrschaft Boko Harams weltweit bekannt. Die Gewalt, die Verwüstung der Landwirtschaft und die Vertreibung der Bevölkerung im Nordosten Nigerias haben dazu geführt, dass rund 4,7 Millionen Menschen hungern.

Die andauernde Gefahr in der westafrikanischen Region erschwert den Zugang zur leidenden Bevölkerung drastisch. Vor allem in der Region Borno, wo Hilfskräfte teilweise keinen Zugang haben und unabhängige Informationen nur schwer herausdringen, könnte es bereits eine Hungersnot gegeben haben, so das "Famine Early Warning Systems Network". Die zahlreichen Flüchtenden haben rund um die Krisenregion - auch jenseits der Landesgrenze - bereits riesige Lager gebildet.

Der Washington Post zufolge gibt die Regierung Nigerias - immerhin die größte Wirtschaftsnation Afrikas - bislang kein gutes Bild ab: Helfer beklagen, dass die Lage lange nicht bekämpft worden sei, vor allem in Borno. Dennoch ist die Krise nicht allein nigerianisch: Wie die Terrorgruppe Boko Haram kennt auch der Hunger in der Region keine Grenzen, sodass auch Menschen in Nord-Kamerun, dem West-Chad und Südost-Niger am Ernährungsmangel leiden.

Somalia: Eine schlimmere Dürre als 2011

Wie schon 2011, als in Somalia binnen kurzer Zeit 250 000 Menschen verhungerten, kämpft das Land am Horn von Afrika jetzt erneut mit einer Hungerkrise. Die ist in Somalia vor allem dürrebedingt, dennoch wird die Hilfszufuhr durch die Herrschaft der al-Qaida-nahen Terrormiliz al-Shabab erschwert. Fast im ganzen Land ist die Ernte ausgeblieben, da beide Regenzeiten unterdurchschnittlich ausfielen. Eine der Folgen ist der Verlust von Weideland und Vieh der in den vergangenen Jahren wieder aufgebauten Herden, daneben steigen die Lebensmittelpreise bei sinkenden Löhnen.

Die Dürre - noch drastischer als 2011 - hat mittlerweile dazu geführt, dass wegen mangelnden Trickwassers eine Choleraepidemie ausgebrochen ist, die die Menschen zusätzlich schwächt; es wurden bereits über 10 000 Fälle gemeldet. Schätzungsweise 2,9 Millionen Menschen in Somalia leiden Hunger, weitere 3,3 Millionen Menschen drohen ebenfalls in eine Hungerkrise abzurutschen, sollten sie nicht rasch Hilfe erhalten. Hinzu kommen 363 000 Kinder unter fünf Jahren, die akut mangelernährt sind.

Somalier in den von al-Shabab gehaltenen Gebieten sind einer größeren Gefahr ausgesetzt, unter Hunger zu leiden. Zwar wurde zuletzt gemeldet, dass manche Islamisten es den Menschen erlauben, mit relativer Freiheit nach Nahrung zu suchen. Dennoch bleibt Helfern der Zugang zu ihren Gebieten teils verwehrt. Internationale Organisationen ergreifen bereits unkonventionelle Maßnahmen, beispielsweise indem sie per Hubschrauber über Gefechtslinien hinweg eingekesselte Menschen versorgen. Dennoch: Gerade Kinder sind gefährdet, weil sie schon nach Phasen der Unterernährung bleibende Schäden davontragen können.

Das Welternährungsprogramm hat sich zum Ziel gesetzt, von den weltweit 20 Millionen akut Gefährdeten in den kommenden Monaten rund 17 Millionen zu erreichen. Für die Hilfen im Jemen, Somalia, Südsudan und Nigeria werden bis September etwa eine Milliarde, für das gesamte Jahr 2017 2,8 Milliarden US-Dollar benötigt. Etwa ein Fünftel des Geldes steht bereits zur Verfügung.

Der internationale Spendenaufruf, bekräftigt durch den Appell der Bundesregierung am vergangenen Mittwoch, ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Die Kosten, um eine Hungersnot abzuwenden, seien weit geringer als die Kosten, die Folgen einer Hungersnot zu bekämpfen, so das Welternährungsprogramm. In "unserer Welt des Überflusses" gebe es keine Ausrede für Nichtstun und Indifferenz, sagte UN-Generalsekretär A ntónio Guterres bereits im Februar.

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