Israel:Kriegsgefahr im Nahen Osten wächst

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Der Islamische Dschihad reagierte mit zeitlicher Verzögerung, mit aller Wucht auf israelische Luftangriffe am Tag zuvor. (Foto: MOHAMMED SALEM/REUTERS)

Kämpfer des Islamischen Dschihad nehmen Tel Aviv und das Landesinnere unter Beschuss. Es gibt aber auch mehr als ein Dutzend Tote nach israelischen Angriffen.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Im Nahen Osten eskaliert erneut die Gewalt. Am Mittwochnachmittag kam Israel unter heftigen Beschuss aus dem Gazastreifen. Raketen wurden dabei von Kämpfern des Islamischen Dschihad nicht nur auf Städte im unmittelbaren Grenzgebiet, sondern auch auf Tel Aviv im Zentrum des Landes abgefeuert. Das gilt gemeinhin als Kriegserklärung. Nach Angaben der Armee wurden mehr als 470 Raketen bis zum späten Abend auf Israel abgefeuert. Gebäude und Autos wurden im Süden des Landes getroffen und beschädigt.

Mit zeitlicher Verzögerung reagierte die von Iran finanzierte Miliz mit aller Wucht auf israelische Luftangriffe am Tag zuvor, bei denen gezielt drei hohe Kommandeure, aber auch mindestens zehn weitere Menschen, darunter Frauen und Kinder, getötet worden waren. Israels Armee, die der Militäroperation den Namen "Schild und Pfeil" gegeben hat, bombardierte auch am Mittwoch weiter Einrichtungen des Islamischen Dschihad im Gazastreifen.

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Es ist seit 15 Jahren das gleiche Spiel: Erst fliegen Raketen aus dem Gazastreifen nach Israel oder umgekehrt. Dann folgt die Antwort. Ob daraus ein Krieg wird, wird auch an einem anderen Ort entschieden.

Kommentar von Peter Münch

In der Nacht zu Donnerstag meldeten die israelischen Streitkräfte einen Angriff auf Ziele im Gazastreifen, der dem führenden Kopf des Raketenprogramms des Islamischen Dschihads gegolten habe. Bei dem Angriff auf ein Gebäude in Chan Yunis seien in der Nacht der Kommandeur Ali Ghali und zwei weitere Kämpfer ums Leben gekommen, teilten das israelische Militär und der Islamische Dschihad mit. Der Islamische Dschihad habe einen schweren Schlag erlitten, sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Er warnte jedoch, dass die Operation noch nicht vorbei sei.

Seit Beginn der Operation am Dienstag wurden aus Gaza insgesamt mehr als 20 Tote gemeldet. Bei mindestens zehn handelte es sich palästinensischen Angaben zufolge um Zivilisten.

Dementsprechend war das Raketenfeuer in Israel erwartet worden. Vorab schon waren rund eine Million Bewohner im 40-Kilometer-Umkreis des Gazastreifens aufgefordert worden, sich stets in der Nähe eines Schutzbunkers aufzuhalten. Für 300 000 Kinder war die Schule ausgefallen. Die Regierung hat die Bevölkerung mit markigen Tönen auf eine womöglich längere militärische Auseinandersetzung eingestimmt.

"Niemand sollte Israels Entschlossenheit in Zweifel ziehen, seine Bürger zu verteidigen", sagte Premier Netanjahu, der derzeit unter großem innenpolitischen Druck steht. Am Mittwoch empfing er in seinem Jerusalemer Amtssitz Oppositionsführer Jair Lapid, der schon vorab Unterstützung für ein militärisches Vorgehen im Gazastreifen zugesichert hatte.

Die Stimmung ist aufgeheizt im Westjordanland, hier bei einer Beerdigung zweier Männer des Islamischen Dschihad in Dschenin (Foto: RANEEN SAWAFTA/REUTERS)

Ob sich die aktuelle Auseinandersetzung zu einem längeren Krieg um Gaza wie zuletzt 2021 auswächst, hängt aus israelischer Sicht vor allem vom Verhalten der Hamas ab. Israels Erzfeinde, die den schmalen Küstenstreifen seit 2007 beherrschen und seitdem schon in vier Kriege verstrickt waren, erhalten deshalb gerade ungewohnte Signale aus Israel, in denen sie zur Zurückhaltung aufgefordert werden.

"Die Operation 'Schild und Pfeil' richtet sich allein gegen den Islamischen Dschihad", sagte am Mittwochnachmittag ein Sprecher der israelischen Armee in einer Zoom-Schalte mit Journalisten. "Israel ist nicht an einem Krieg interessiert." Erklärungen von verschiedenen Hamas-Führern, die Israel mit Rache gedroht haben und von einer "vereinten Front" der militanten Gruppen sprechen, wollte er zunächst wenig Bedeutung beimessen. "Wir unterscheiden zwischen Erklärungen und Taten, und wir handeln nur bei Taten", sagte er. Zumindest in der ersten Runde des Raketenbeschusses am Mittwoch sei die Hamas noch nicht beteiligt gewesen.

"Der Ball liegt jetzt im Gazastreifen"

Anders als der vergleichsweise kleine Islamische Dschihad, der Schätzungen zufolge im Gazastreifen über wenige Tausend Kämpfer und ein nicht allzu ausuferndes Raketenarsenal verfügt, kann sich die Hamas nicht allein dem Kampf gegen Israel widmen, sondern muss auch auf Stabilität in ihrem Herrschaftsgebiet achten. Ein Krieg mit weitreichenden Zerstörungen würde die Verelendung der mehr als zwei Millionen Bewohner weiter befördern. Zugleich jedoch stehen die Hamas-Führer unter dem Druck, gegenüber Israel im Vergleich zu den konkurrierenden militanten Gruppen nicht als feige oder nachgiebig dazustehen.

Erhebliche Sorgen bereiten der israelischen Führung auch die Spuren, die in der aktuellen Auseinandersetzung nach Teheran weisen. "Die Raketen des Islamischen Dschihad sind selbstgebaut, aber das Geld und die dahinter stehende Ideologie kommen aus Iran", sagte der Armeesprecher. Premier Netanjahu erklärte, Iran sei "für 95 Prozent aller israelischen Sicherheitsprobleme verantwortlich". Teheran versuche, "eine Kampagne gegen Israel an vielen Fronten" zu organisieren.

Einen bitteren Vorgeschmack darauf hatte es an den Pessach-Feiertagen im April gegeben, als Israel plötzlich an drei Fronten unter Beschuss kam: aus dem Gazastreifen im Süden sowie aus Libanon und Syrien im Norden. Nach dem heftigen Raketenfeuer am Mittwochnachmittag sprach Netanjahu nun auch mit den Chefs der Regionalbehörden im Norden und versicherte ihnen: "Wir sind auf die Möglichkeit einer ausgedehnten Kampagne vorbereitet."

Allein in den ersten Stunden wurden am Mittwoch aus dem Gazastreifen schon fast 300 Raketen auf Israel abgefeuert. Eine schlug in ein leerstehendes Haus in Sderot ein, eine beschädigte das Dach eines Kindergartens. Die meisten gefährlichen Geschosse wurden vom Abwehrsystem "Iron Dome" abgefangen. Der dumpfe Knall von Treffern hoch am Himmel war immer wieder auch in Tel Aviv zu hören. Zum Fortgang der Konfrontation sagte der israelische Armeesprecher: "Der Ball liegt jetzt im Gazastreifen."

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