Interview mit Joachim Gauck (1):"Die Politik fürchtet, dass die Bevölkerung die Wahrheit nicht erträgt"

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sueddeutsche.de: Sie sagen: Die näheren Bezugspersonen müssen die Sozialhilfeempfänger motivieren. Aber ist das nicht doch eine Aufgabe der Politik?

Helmut Schmidt Gerhard Schröder Lafontaine Foto: Regina Schmeken

"Diejenigen Politiker, die auch riskieren, nicht wiedergewählt zu werden, die ziehe ich vor", sagt Joachim Gauck und nennt als Beispiele die sozialdemokratischen Altkanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Diese Aufnahme zeigt Schmidt mit dem damaligen Kanzlerkandidaten Schröder im Jahre 1998. Im Hintergrund: Oskar Lafontaine.

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Diese Leute hören der Politik gar nicht mehr zu. Da müssen wir realistisch bleiben. Die Politik hat ein großes Problem zurzeit: Das ist nicht so sehr, dass Politiker Fehler machen, das ist bei allen Menschen so - sondern, dass sie ihre Politik nicht ausreichend vermitteln können. Nicht einmal in den Kreis der Zeitungsleser und Nachrichtenhörer und Nachrichtengucker hinein.

sueddeutsche.de: Machen es die Politiker falsch oder können sie es nicht?

Gauck: Sie machen es falsch aus Furcht. Sie fürchten sich vor der Wahrheit und glauben, dass die Bevölkerung die Wahrheit nicht erträgt. Manchmal haben sie auch recht mit ihrer Furcht. Es kommt eben immer drauf an, auf welchen Teil des Wahlvolkes man blickt: auf jenen, der gerne Populisten folgt oder auf den anderen, der ein nüchternes Urteil fällt. Je nachdem ist ein Politiker mutiger oder feige.

sueddeutsche.de: Wir sind gespannt auf Ihre Beispiele.

Gauck: Peer Steinbrück traut sich auch mal etwas zu sagen, wo andere sich verschlucken würden. Heinz Buschkowsky spricht in der Integrationsfrage oft deutliche Worte, er fürchtet sich eben nicht. Und wird dann plötzlich auch verstanden. Andere umgehen Themen. Die wollen nicht reaktionär wirken - dann sprechen sie das Thema nicht mehr an. Und schon fängt es an, problematisch zu werden.

sueddeutsche.de: Sie haben den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder gelobt für seine Arbeitsmarktreform. Er forcierte Neuwahlen - und verlor sein Amt. Brauchen wir heute Politik, die in der Gewissheit funktioniert, eventuell nicht wiedergewählt zu werden?

Gauck: Ja, die braucht es immer mal wieder.

sueddeutsche.de: Immer mal wieder?

Gauck: Ich bin ja nicht von gestern. Politiker wollen wiedergewählt werden. Aber diejenigen, die auch riskieren, nicht wiedergewählt zu werden, die ziehe ich vor. Der debattenfähige Teil der Bevölkerung erwartet, dass Politiker auch mal mutig sind. Zivilcourage ist jener Mut, der sich bewährt, wenn wir gegenüber unseren eigenen Freunden abweichende Meinungen vertreten.

sueddeutsche.de: Bedeutet Mut in der Politik auch, dass man mitunter eine Politik macht, die nicht dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht? Ist das überhaupt noch demokratisch?

Gauck: Natürlich. Mutige Politik offenbart die Anliegen. Und indem es offenbart wird, wird es mehrheitsfähig. Übrigens: Es ist ein Irrtum, zu glauben, Schröders Politik von Fördern und Fordern sei nicht in der Gesamtbevölkerung mehrheitsfähig gewesen. Der Erfolg war nur in der eigenen Partei und im eher linken Milieu begrenzt. Ein ähnliches Phänomen haben wir gesehen, als Helmut Schmidt Kanzler war und die Friedensbewegung den politischen Mainstream bestimmte. Das hat die SPD so stark geprägt, dass Schmidt mit seiner Position - wir müssen gegen das Imperium des Sowjetregimes Stärke zeigen - nicht mehr mehrheitsfähig war. Aber: Schmidt ist gestanden.

sueddeutsche.de: Hatte Schmidt mit seinem Einsatz für die Nachrüstung recht?

Gauck: Ja, er hat recht gehabt, und die Friedensbewegung unrecht. Damals galt es als Tugend, sich zu entfeinden - eine Haltung, die ich als Christ auch nachvollziehen kann. Aber töricht wäre zu glauben, es gäbe keine Feindschaft mehr.

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