Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit, eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte endete. Oskar Deutsch hat viele Angehörige nie kennengelernt, weil sie von den Nazis ermordet wurden. Seine Eltern zogen vor seiner Geburt nach Wien. Heute steht der 55-Jährige dem Bundesverband der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs vor. Ein Gespräch über eine Kindheit als Wiener Jude, die späte Aufarbeitung der Nazi-Zeit in Österreich und den heutigen Antisemitismus.
SZ: Herr Deutsch, Sie sind im Jahr 1963 zur Welt gekommen. Wissen Sie noch, wann Sie von der Schoah erfahren haben?
Oskar Deutsch: Das war erst Ende der Siebzigerjahre, als die amerikanische Serie "Holocaust" im Fernsehen ausgestrahlt wurde, die der WDR nun wieder gezeigt hat. Die Serie war sozusagen meine historische Aufklärung.
Also haben Ihre Eltern mit Ihnen zunächst nicht über die Nazi-Zeit gesprochen.
Das ist richtig, das war kaum Thema bei uns. Schauen Sie, die Mutter meines Vaters ist in Auschwitz ermordet worden. Meine Großeltern mütterlicherseits und ihre Verwandtschaft sind allesamt im Holocaust umgekommen. Meine Mutter wurde von ihren Eltern gerettet, weil sie sie in ein katholisches Kloster gesteckt haben. Dort wurde sie später von Freunden der ermordeten Eltern wieder herausgeholt. Diese Menschen haben meine Mutter wie ein eigenes Kind behandelt und wurden für mich zu Großeltern.
Wo war dieses Kloster, in dem Ihre Mutter versteckt wurde?
In Lemberg, dem heutigen Lwiw in der Ukraine. Meine Großeltern und Eltern sind mehr oder weniger alle in den Fünfzigerjahren nach Österreich gekommen: Die Familie meines Vaters kam aus Klausenburg - Cluj - in Rumänien nach Wien. Meine Mutter und ihre Adoptiveltern reisten aus Lemberg über Krakau und Prag nach Österreich. Eigentlich war auch Wien nur als Durchgangsstation auf dem Weg nach Amerika gedacht. Aber sie sind dann doch hiergeblieben.
Lemberg, Krakau, Prag und Klausenburg - das sind alles Orte, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Teil von Österreich-Ungarn waren und deren jüdische Bevölkerung von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg weitgehend auslöscht wurde.
Deshalb wollten meine Eltern und Großeltern auch nicht mehr nach Lemberg oder Klausenburg fahren. Sie wollten auch nicht die Serie "Holocaust" sehen. In diese Vergangenheit wollten sie nicht mehr zurückschauen. Deshalb haben sie mir über die Schoah und den Zweiten Weltkrieg wenig bis nichts erzählt.
Wie gingen Ihre Eltern mit dem Thema jüdische Identität um?
Auch das kam bei uns in den Siebzigerjahren zur Sprache. Als der Jude Bruno Kreisky österreichischer Kanzler war, diskutierte die Familie immer wieder politisch. Ich finde es übrigens furchtbar, wer sich heute alles auf Kreisky beruft und ihn vereinnahmt.
Welches Bild haben Sie vom Sozialdemokraten Bruno Kreisky?
Ein differenziertes. Kreisky hat viele gute Sachen getan, aber er hatte auch problematische Seiten, die bei uns Thema waren: seine abschätzige Meinung über Israel und sein unmögliches Benehmen gegenüber der Ministerpräsidentin Golda Meir etwa, der er bei einem Besuch nicht einmal ein Glas Wasser angeboten hat. Dann gab es noch Kreiskys Versuche, PLO-Chef Jassir Arafat koscher zu machen, obwohl er damals in Terroraktionen verwickelt war. Das alles hat mich geprägt. Besonders tief beeindruckt war ich vom Schicksal der überfallenen israelischen Sportler während der Olympischen Spiele in München 1972.
Damals haben palästinensische Terroristen das israelische Olympiateam in ihre Gewalt gebracht. Bei einer missglückten Befreiungsaktion der deutschen Polizei ermordeten die Täter elf israelische Geiseln.
Das Olympia-Attentat war ein Schlüsselerlebnis für mich. Der Neunjährige, der ich damals war, hat sich vor dem Fernseher darüber aufgeregt, dass die Spiele unterbrochen wurden. Dann erst habe ich begriffen, was dort eigentlich passiert. In dieser Zeit gab es viele Anschläge auf jüdische und israelische Einrichtungen. Als Heranwachsender habe ich mich gefragt: Warum geht es immer gegen uns Juden? Was hat man gegen uns? In diese Altersphase fällt mein Entschluss, mich für jüdische Belange zu engagieren.
In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde die Rolle der Österreicher in der NS-Zeit nicht aufgearbeitet. Wie ging Ihre Familie damit um, hier in Wien gemeinsam mit unbestraften Nazi-Tätern zu leben?
Das Thema wurde ausgeklammert. Der Freundeskreis der Familie war ausschließlich jüdisch. Mein Vater hatte über seine Firma, die gerösteten Kaffee produzierte und weltweit Rohkaffeehandel betrieb, auch sehr guten Umgang mit nichtjüdischen Österreichern. Aber das waren vorwiegend geschäftliche Beziehungen.
Nachdem Sie von der Schoah erfahren hatten: Fühlten Sie sich noch unbefangen in Wien?
Ja, es war eine schöne Jugend. Damals wie heute habe ich mich als österreichischer Jude gefühlt. Wien bedeutet für mich Heimat. Ich bin zur Austria ins Stadion gegangen, wenn das Spiel am Sonntag war und nicht am Samstag, denn den Schabbat haben wir eingehalten. Speziell was den Sport betrifft, bin ich besonders patriotisch: Ich halte immer zu Österreich. Das geht so weit, dass ich zum Fan von Werder Bremen werde, wenn einer von der Austria dorthin wechselt. Meine Eltern haben mich auf eine öffentliche Schule geschickt, ich hatte jüdische und nichtjüdische Freunde.
Wurden Sie damals angefeindet, weil Sie jüdisch sind?
Nein, zumindest habe ich keinen Antisemitismus wahrgenommen. Unsere Nachbarn waren lieb zu mir. Allerdings hat mein Lateinlehrer an der Stubenbastei die Schularbeiten (Klausuren, Anm. d. Red.) immer auf den Samstag gelegt, wohlwissend dass ich und ein zweiter jüdischer Mitschüler am Schabbat nicht zur Schule gehen konnten. Ich bin dann auf die amerikanische Schule in Wien gewechselt, hatte eine Fünf-Tage-Woche und habe dort maturiert.
Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern, erzählt, wie sie und ihre Familie jahrzehntelang auf gepackten Koffern saßen. Auch Sie sprachen davon, dass Ihre Altvorderen Wien anfangs eher als Durchgangsstation ansahen. Wann haben die Juden in Österreich ihre Koffer ausgepackt?
Bei den Leuten, die eigentlich gehen wollten, gab Franz Vranitzky den positiven Ausschlag. Der damalige Kanzler, ein Sozialdemokrat, hat 1986 die Koalition mit der FPÖ aufgekündigt, nachdem Jörg Haider mit Hilfe von rechtsextremen Kräften putschartig die Partei von seinem moderaten Vorgänger übernommen hatte. Auch später hat Vranitzky Rückgrat gezeigt, als er bei einem Israel-Besuch 1993 mit dem Opfermythos aufräumte, dem viele in Österreich nachgehangen sind. Seine Botschaft zusammengefasst: Österreicher sind nicht nur Opfer, sondern auch Täter in der Nazi-Zeit gewesen. In Vranitzkys Amtszeit änderte sich spürbar der Umgang mit der Vergangenheit: An Schulen wurden der Nationalsozialismus und die Schoah endlich ausführlich unterrichtet.
Das waren vorher keine Themen, die österreichischen Schülern nähergebracht wurden?
In meinen Jahren an öffentlichen Schulen nicht. Das änderte sich erst in den Achtzigerjahren. Da spielte die erwähnte Fernsehserie eine Rolle, natürlich auch die Waldheim-Affäre. Für uns österreichische Juden war Kanzler Vranitzky wichtiger, als das von außen wahrgenommen wurde. Über Jahre hatten er und seine Frau Freundschaften mit führenden Politikern wie zum Beispiel Jitzchak Rabin aufgebaut, die regelmäßig nach Wien kamen. Vranitzky hat also nicht nur Reden gehalten, er hat diese Nähe und Freundschaft auch glaubwürdig gelebt.
Haider hat den modernen Rechtspopulismus erfunden, er hat die FPÖ mit ausländerfeindlichen und nationalistischen Parolen groß gemacht. War er auch Antisemit?
Vor allem war er Opportunist mit wenig Skrupeln - auch nicht bei antisemitischen Tönen. Haider hat alles getan, um mehr Stimmen zu bekommen. Mit Blick auf meinen Amtsvorgänger Ariel Muzicant hat Haider seinen "Dreck-am-Stecken"-Sager gebracht. Dieser widerliche Spruch stammt aber dem Falter zufolge von seinem damaligen Redenschreiber, dem heutigen Innenminister Herbert Kickl. Erst viel später wollte Haider den extremen Rand der Partei loswerden. Es kam zur Spaltung und Gründung des BZÖ unter Haider. Herr Strache übernahm und die FPÖ wurde zum politischen Arm der deutschnationalen Burschenschaften. Das ist bis heute so. Distanzierungen von Antisemitismus und demokratiefeindlichen Tendenzen folgen keine glaubwürdigen Taten. In diesem einen Jahr seit die FPÖ mitregiert, gehen knapp 50 antisemitische oder neonazistische Vorfälle auf das Konto dieser Partei.
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Kickl hat vor wenigen Tagen die Europäische Menschenrechtskonvention in Frage gestellt und zudem ein verstörendes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit an den Tag gelegt. Er sagte, "dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht". Sind solche Aussagen vereinbar mit den Werten der Republik Österreich?
Die Republik ist der Menschlichkeit verpflichtet, und zwar gegenüber jedem Menschen. Das ist der Kern der Menschenrechtskonvention, die nicht zuletzt unter dem Eindruck von Millionen Schoah-Opfern entstanden ist. Der Innenminister liegt nicht nur falsch, sondern er beschämt die überwältigende Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher. Umso wichtiger waren die Klarstellungen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers sowie von Vertretern aller vernünftigen Parteien. Kickl spricht nicht für Österreich, ich glaube ja nicht einmal für die Mehrheit der FPÖ-Wähler.
Was halten Sie denn allgemein davon, dass der konservative Kanzler Sebastian Kurz eine Koalition mit der FPÖ eingegangen ist?
Sicher wäre es mir lieber, wenn die ÖVP im Bund mit jeder anderen Partei als der FPÖ koaliiert. Das gilt auch für die SPÖ auf Landesebene, wo es Partnerschaften mit der FPÖ gibt. Aber Demokratie ist kein Wunschkonzert. Die Regierung kam demokratisch zustande, und ebenso demokratisch ist unser Protest gegen die FPÖ, unser Cordon Sanitaire. Wir bleiben wachsam.
Schauen wir noch einmal zurück auf die Jahrzehnte nach 1945. Wie sehen Sie den Umgang mit Nazi-Opfern in Österreich im Vergleich mit Deutschland?
Da gab es von Beginn an riesige Unterschiede. Damit meine ich nicht nur die Themen Entschädigung und Restitution. Es geht auch um das staatliche Eingeständnis von Schuld und der daraus folgenden Verantwortung. Bei euch Deutschen hat man schon in der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer damit begonnen, sich um Holocaust-Überlebende zu kümmern, während bei uns die Leute allenfalls mit Peanuts abgespeist wurden. Das änderte sich eben erst mit Vranitzky. Inzwischen ist gerade bei den Jüngeren das Wissen um die Vergangenheit und das Bewusstsein für antidemokratische Mechanismen gewachsen.
Auch das Bewusstsein für Antisemitismus?
Es gibt leider eine sehr negative Gesamtentwicklung. Der Antisemitismus wächst überall in der Welt, auch bei uns in Österreich. Aber in Wien wehren wir uns recht erfolgreich.
In welcher Gruppe wuchert der Hass auf Juden am meisten?
Er ist überall auf dem Vormarsch, unter Rechten in der traditionellen Form, aber auch in der politischen Linken. Und dann gibt es den Antisemitismus auch unter Flüchtlingen aus muslimischen Ländern. Ein besonderes Problem nehmen wir hier in Österreich wahr bei manchen Nachkommen zugewanderter türkischer Menschen, also der zweiten und dritten Generation. Da gibt es Gruppen, die sich durch das islamisch-nationalistische Verhalten des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan ermuntern lassen und antisemitischen Hass verbreiten, oft israelbezogen. Allerdings gibt es auch Organisationen wie die Türkische Kulturgemeinde, die sich ganz klar gegen den Hass der lauten Fundamentalisten stellen.
Haben Sie konkrete Vorschläge, wie man dem Hass auf Juden in Österreich entgegenwirken kann?
Eine Idee wäre, dass man in den Schulen neben den Themen NS-Diktatur und Holocaust zusätzlich gezielt über das Judentum spricht. Unsere Geschichte, Traditionen und Kultur haben sehr viel für die Welt zu bieten. Ich würde mir wünschen, dass das gezielt auf Unterrichtspläne kommt. Und Antisemitismus ist ein Kapitel von vielen. Da geht es darum, dass die nächsten Generationen leichter erkennen, wie Judenfeindlichkeit entsteht, welche Formen es davon gibt und was typische antisemitische Stereotype sind. Dieses Wissen würde auch helfen, andere gruppenbezogene Arten von Rassismus und Menschenfeindlichkeit zu enttarnen. Alle österreichischen Schüler sollten mindestens einmal die KZ-Gedenkstätte Mauthausen besuchen - es wäre ein wichtiger Fortschritt, speziell bei muslimischen Jugendlichen und jenen aus Elternhäusern, die den Nationalsozialismus verharmlosen.