Haustürwahlkampf:Wahlkampf auf die altmodische Art

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Sebastian Roloff, Münchner SPD-Direktkandidat für die Bundestagswahl 2017. (Foto: Robert Koester)

Big Data, Microtargeting, Data Mining? Für deutsche Wahlkämpfer kaum ein Thema. Wie ein Direktkandidat - ganz alte Schule - an der Haustür um die Erststimme wirbt.

Von Lars Langenau

Bürger: "Das gibt es also wirklich, dass Sie klingeln kommen!"

Kandidat: "Ja!"

Bürger: "Aber ich bin notorischer Grün-Wähler."

Kandidat: "Das ist nicht schlimm. Ich mache Werbung für die Erststimme."

Bürger: "Also ich bin von Mutti zu den Grünen gekommen."

Kandidat: "Das ist doch schon mal ein Prozess."

Bürger: "Schulz gefällt mir, weil der pragmatisch ist."

Ein Lächeln huscht über das Gesicht von Sebastian Roloff, 34, Direktkandidat der SPD für den Münchner Süden. Vielleicht ist sein Gegenüber hinter der Haustür einer von den vielen, von denen Martin Schulz sagt, dass sie noch unentschieden sind, wem sie am 24. September ihre Stimme geben. Einer von denen, die er persönlich noch überzeugen kann, ihm wenigstens die Erststimme zu geben, weil die über den Direktkandidaten entscheidet. Hier das Kreuzchen bei einer der kleineren Parteien zu machen, wäre völlig sinnlos.

Roloff steht auf Platz 35 der Landesliste, traditionell sind in der Bayern-SPD aber nur die ersten 16 Plätze wirklich sicher. Eigentlich ist er chancenlos. Und doch gibt er sich genauso frohen Mutes wie sein Parteichef, für den die Wahl erst am Sonntag entschieden wird - und nicht in Umfragen. Roloff tritt zum ersten Mal als Direktkandidat an, und um es deutlich zu sagen: Er reißt sich gerade den Arsch auf. Und das schon seit März. Da hat für ihn der Wahlkampf begonnen.

"Im März hätte ich gewonnen", sagt Roloff. Da war Martin Schulz gerade neuer SPD-Chef, zum Kanzlerkandidaten gekürt und in den Umfragen hatte die SPD die Union gar überholt. Hätte, hätte Fahrradkette, könnte Roloff in Tradition anderer Sozialdemokraten sagen. Doch obwohl seither die Chancen für ihn und seine Partei rasant schwinden, sind seit dem Frühjahr seine Tage lang und hart: um sechs Uhr aufstehen, Nachrichten gucken, hören, lesen, um 7.30 Uhr ins Büro, danach auf die Straße - Wähler erreichen. "Wenn der Tag um 23 Uhr endet, ist das früh. Oft wird es ein Uhr, bis ich alle Mails durch und beantwortet habe."

Der ehemalige Wahlkreis von Peter Gauweiler

Hauptberuflich ist Roloff Anwalt bei der IG Metall, und hat inzwischen neben ein paar tausend Euro auch seinen Jahresurlaub investiert, um für sich zu werben. Nach der Arbeit nimmt er in der Regel noch zwei Termine wahr, am Wochenende oft vier.

Sein Wahlkreis ist der ehemalige Wahlkreis von Peter Gauweiler (CSU). Seit 1976 wird er von den Christsozialen gehalten - mit einer Unterbrechung von 1998 bis 2002. Wäre sein Wahlkreis nur hier am Partnachplatz in Sendling oder das alte Arbeiterviertel in Giesing, dann würde der Sozialdemokrat mit großer Wahrscheinlichkeit in den Bundestag einziehen. Doch er umfasst auch die schicken Viertel Hadern, Solln und Harlaching, wo die Bewohner der Einfamilienhäuser eher konservativ wählen.

Seinen Wahlkampf hat er selbst geplant. "Es ist mir wichtig, dass ich auf allen Kanälen ansprechbar bin", sagt der Kandidat. So ist er (natürlich) auf Facebook präsent und sagt: "Ich bin der zweitaktivste Twitterer in der SPD nach Johannes Kahrs." Sein "absurdester Termin in diesem Wahlkampf", sagt er, war ein Fotoshooting der Münchner Abendzeitung, die ihn für ein (gestelltes) "Wettgrillen" mit seinem Gegenkandidaten Michael Kuffer von der CSU mit hochgekrempelten Hosen in der Isar ablichtete. Roloff steht im Wasser und hält ein Würstchen in die Luft. Dazu muss man wissen, dass Roloff Vegetarier ist. Aber was macht man nicht alles im Wahlkampf. Auch Hausbesuche wie an diesem frühen Abend vor ein paar Tagen gehören dazu.

"Ich gehe zu den Leuten, die uns nahestehen, denn die wirken als Multiplikatoren", sagt Roloff. Etwa 240 000 Wahlberechtigte wohnen in seinem Wahlkreis, die in 100 000 Haushalten leben. "Wenn ich mit jedem sprechen könnte, wäre ich mir sicher, die Wahl zu gewinnen."

Er hat es immerhin geschafft, mit fast "10 000 Wählern persönlich zu reden". Dadurch, so kalkuliert Roloff, dürfte er bis zu 70 000 Menschen erreicht haben. Denn nach seiner Rechnung erzählt jeder Einzelne der 10 000 vier bis sieben anderen Wählern von dieser persönlichen Begegnung mit ihm. Das könnte tatsächlich wahlentscheidend sein für ihn. Aber, wie gesagt, diese Rechnung mit den Multiplikatoren ist seine persönliche Schätzung.

Immer zu zweit

"Wohnungsbesuche mache ich immer zu zweit", sagt Roloff, "und mit einem Stadtrat ist das doppelt so gut." An diesem Abend ist er mit dem Stadtrat und SPD-Ortsvereinsvorsitzenden Jens Röver, 37, unterwegs. "Ich würde Ihnen gern unseren Bundestagskandidaten vorstellen", sagt Röver vor einer Haustür und zeigt auf seinen Genossen. Der sagt dann: "Ich bin Ihr Bundestagskandidat und will Ihnen nichts verkaufen." Roloff überreicht seinen Flyer und sagt: "Einen schönen Abend noch!" Das war es meistens auch schon. Bloß niemandem auf den Zeiger gehen. Deshalb greift er für die Kontaktaufnahme auf drei Standardsätze zurück, die er variiert. Die anderen beiden sind: "Haben Sie sich schon entschieden, wen Sie wählen?" oder "Hier ist Ihr Bundestagskandidat Sebastian Roloff, ich würde Ihnen gern einen Flyer von mir geben".

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In der Regel ist er auch in diesen letzten Tagen des Wahlkampfes nur bis 19.30 Uhr unterwegs, weil er zur Tagesschau um 20 Uhr nicht mehr stören möchte. Da dampft eh schon vielfach das warme Abendessen in der Küche, wenn er klingelt. Dann variiert er einmal mehr: "Ich bin Ihr Bundestagskandidat und wünsche Ihnen einen guten Appetit beim Abendessen." Dazu der Flyer.

Heute trägt Roloff einen dunklen Anzug, ein blaues Hemd und ist, neben seinen Flyern, mit Gummibärchen und ein paar Kugelschreibern bewaffnet. Im ersten Haus mit 16 Parteien öffnen drei Bewohner, im zweiten Haus wieder drei Kontakte.

"Dem hätten wir gern Gummibärchen gegeben"

Einmal ertönt eine Stimme aus der Gegensprechanlage: "Ja, legen Sie mir den Flyer in den Briefkasten." Hätte Roloff gemacht, wenn der Name zu verstehen gewesen wäre, oder er gewusst hätte, wo genau er zuvor geklingelt hat. Ein anderer sagt: "Ne, das brauche ich jetzt gar nicht." Roloff: "Na ja, dem hätten wir gern Gummibärchen gegeben."

In einer Wohnung springen zwei Kinder rum, die bekommen dann zwei Tüten Gummibärchen und bedanken sich höflich. Roloff grinst. Meistens stoße er auf "freundliches Desinteresse". Manchmal werde er auch zum Kaffee eingeladen, aber das versuche er zu vermeiden, weil er sonst zu wenige "Kontakte" schaffen würde.

Das dritte Haus ist eine Art Hochhaus mit Dutzenden Klingelschildern. Röver und er klingeln überall, einer macht meist auf. Dann fangen die beiden Sozialdemokraten von oben an und arbeiten sich nach unten vor. Eine ältere Dame sagt: "Wir haben Samstag schon am Stand zusammen gesprochen!" Roloff lächelt, na ja, er könne sich eben nicht alle Gesichter merken. Aber die potenziellen Wähler sich seins schon. Draußen vor dem Haus sagt er: "So, jetzt habe ich in zehn Minuten mit drei Wählern gesprochen, das klappt in keiner Veranstaltung."

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Der nächste Kontakt: Ein älterer Mann öffnet vorsichtig und sagt in gebrochenem Deutsch: "Ich darf hier nicht wählen, weil ich nicht deutscher Staatsbürger bin. Aber ich kenne Sie - und wünsche Ihnen alles Gute!" Und Roloff sagt, "es macht keinen Unterschied für mich, ob da ein ausländischer Name dran steht oder nicht. Ich will mich ja um alle kümmern, die hier wohnen."

Zwei Stunden Klinkenputzen nach einem vollen Arbeitstag. Man könnte sich eine schönere Abendgestaltung denken, aber Roloff kämpft. Und so funktioniert Demokratie eben, auch wenn so viele "über die Politiker" schimpfen. Nächste Tür. Roloff klingelt, keiner macht auf. In dem Moment kommt ein Mann gerade nach Hause.

Roloff: "Herr Huber, wenn Sie mal ein Problem haben ..."

Herr Huber: "Wollen wir mal schauen."

Roloff, nachdem sich die Tür wieder geschlossen hat, sagt: " Mein Claim ist ja: 'Der kümmert sich.' Das ist nicht unanstrengend, weil ich das dann auch wirklich mache." Muss er wohl. Sonst wird er schnell unglaubwürdig.

Seine Themen habe er aus der Kommunalwahl mitgenommen. 15 Prozent der Leute mit denen er ins Gespräch kommt, hätten ein Anliegen. Meist gehe es um die hohen Mieten, oft darum, dass die Rente dafür kaum ausreiche. Manchmal auch um Integration. Niemals um Trump oder Nordkorea.

"Mir ist wichtig, was die Menschen umtreibt. Wir verkennen, dass es eben nicht allen gut geht", sagt Roloff. Bei der Integration etwa hätten viele Menschen das Gefühl, zu kurz zu kommen und dass für die Flüchtlinge genug da sei. "Aber das ist eben nur ein Gefühl." Dann kläre er auf. Den Leuten nach dem Mund zu reden, bringe nichts, sagt er.

Nach einer Stunde zieht er das Jackett aus. "Ich hoffe immer, dass keiner durch den Spion schaut, mich sieht und dann extra nicht öffnet." Von 180 Mitgliedern im Ortsverein würden sich etwa 25 Sozialdemokraten aktiv am Bundestagswahlkampf beteiligen, sagt Roloff. Im Kommunalwahlkampf seien mehr Leute aktiv, weil eben auch mehr auf der Liste stehen.

Er klingelt wieder, eine Frau mittleren Alters macht auf, schaut ihn verwundert an und sagt: "Ich kenne Sie vom Plakat." Roloff antwortet: "Ich bin zwar nicht geschminkt, aber ich bin es wirklich." Sie: "Ich finde es klasse, dass ich Sie mal persönlich kennenlerne. Ihre Partei ist mir eh sympathisch." Das geht runter wie Öl.

"Wer die Menschen scheut, hat in der Politik nichts zu suchen"

Mehrfach bellen Hunde hinter Türen, die geschlossen bleiben - und man sieht Roloff in diesem Moment an, dass er darüber auch ganz froh ist. Als Paketbote hätte er ein Problem. Ob er auch Hemmungen habe? Die, so sagt Roloff, verliere er nach zwei, dreimal Klingeln. Erst müsse er sich zwar überwinden, aber dann sei er im Flow und "schmerzfrei". Er gehe das "proaktiv" an. "Wer die Menschen scheut, hat in der Politik nichts zu suchen."

Einmal öffnet ein Mann, der nur ein Handtuch um die Hüfte geschwungen hat und entschuldigt sich gleich wieder. "Ich würde ja erst gar nicht die Tür aufmachen", sagt Roloff. "Aber meistens ist es so, dass die Leute erfreut sind, dass mal jemand vorbeischaut. Dann macht das auch Spaß."

Vor ein paar Jahren hat er mal Gisela Stuart, eine britische Labour-Abgeordnete mit bayerischen Wuzeln, für ein paar Wochen als Praktikant in ihrem Wahlkampf begleitet. "Die kontaktieren in Großbritannien die Wähler dreimal vor den Wahlen!", sagt er bewundernd. Doch wegen der strengeren Datenschutzbestimmungen sei eine gezielte Wähleransprache in Deutschland ein "komplett anderes Ding".

Deshalb habe er auch nicht die SPD-Web-App "Tür-zu-Tür" auf dem Handy, die eine Zusammenstellung von alten Wahlergebnissen und soziodemografischen Daten bietet. Auf ihr könnten die Kandidaten sehen, wo es sich vielleicht lohnt, verstärkt zu werben. Die Betonung liegt auf vielleicht.

Big Data, Data Mining oder speziell zugeschnittenes Microtargeting, um mit gezielten Botschaften auf den letzten Metern noch unentschlossener Wähler zu erreichen wie in den USA? Fehlanzeige. Roloff handelt nach der Maxime "Je höher das Haus, desto SPD-näher die Bewohner." Immerhin würden sie manchmal noch in eine Tabelle eintragen, wo sie denn jetzt schon überall waren. "Da lobe ich mir Excel", sagt Genosse Röver. "Voll old school." Roloff lächelt.

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