ARD-"Wahlarena" mit Martin Schulz:Herr Schulz, wo bleibt denn da der Mensch?

Kanzlerkandidat Schulz in Wahlarena

Wissen "die da oben" überhaupt noch wie "die da unten" ticken? Durchaus - diesen Eindruck bemüht sich SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zu vermitteln.

(Foto: dpa)

Der SPD-Kanzlerkandidat kümmert sich in der ARD-"Wahlarena" um Rentnerinnen, den schulischen Englischunterricht und die Müllabfuhr. Ohne Gefühle geht in diesem Wahlkampf nichts.

TV-Kritik von Hannah Beitzer

Martin Schulz kennt Malente. Und die Müllabfuhr. Er kennt Mütter ohne Rente. Er kennt Behindertenwerkstätten. Er kennt den Immobilienmarkt in Darmstadt. Und den in Frankfurt, München, Berlin, Hamburg. Martin Schulz kennt es, Hilfe zu brauchen. Und sie zu bekommen.

Martin Schulz, der SPD-Kanzlerkandidat und Herausforderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat einen wahren Einfühlungsmarathon hinter sich in diesem Wahlkampf. Wie oft hat er wohl in den vergangenen Wochen gesagt: "Ich war einmal Bürgermeister einer kleinen Stadt"? Nach dem Montagabend in der ARD noch ein paarmal mehr. Für seine Wahlarena hat der Fernsehsender 150 Menschen ausgewählt, die Schulz Fragen stellen dürfen, die weder der Kanzlerkandidat noch die Moderatoren vorher gesehen haben.

Darunter sind einige, auf die Schulz bestens vorbereitet ist. Eine Frau aus Darmstadt berichtet, dass ihre Familie sich dort kaum mehr ein Häuschen leisten könne. Obwohl sie und ihr Mann Doppelverdiener seien. "Sie haben recht, die Mietpreisbremse hat nicht funktioniert", sagt Schulz an und setzt Schlag für Schlag hinterher. Die SPD wolle die Mietpreisbremse verschärfen - anders als Frau Merkel. Anders auch als die FDP, die sie gleich ganz abschaffen wolle. Außerdem will Schulz' Partei sozialen Wohnungsbau fördern. Und Familien, die bauen oder kaufen wollen. Sogar die gebührenfreien Kitaplätze, die die SPD möchte, bekommt er noch unter.

Was war noch mal die Frage?

Weniger anschaulich ist er, als es um "den Schuldenberg" geht, den ein Zuschauer abgebaut sehen möchte. Schulz verstrickt sich im Einerseits/Andererseits. Denn einerseits möchte er ja Schulden abbauen, andererseits will er aber auch "Investitionen". Er spricht von der Nullzinspolitik - "schlecht für den Sparer, gut für den Bundeshaushalt", springt von dort zum Breitbandausbau. Der Fragesteller wirkt nicht zufrieden, Moderator Andreas Cichowicz hakt nach: "Was wäre denn der Unterschied zu Herrn Schäuble?" Schulz schlägt nun einen gänzlich verwirrenden Haken: Finanzminister Wolfgang Schäuble habe heute Geburtstag, er werde 75. Was war noch mal die Frage?

Die Beantwortung anderer Fragen krankt daran, dass sie überhaupt nicht Sache eines Kanzlers sind. So will eine Schülerin wissen, was Schulz tun möchte, um den Englischunterricht an deutschen Schulen zu verbessern. Nun ist Bildung in Deutschland bekanntlich Ländersache, ihm bleibt also nur zu schimpfen über diesen "Flickenteppich". Und natürlich das Kooperationsverbot. "So ein Quatsch! Das gehört abgeschafft!"

"Quatsch" übrigens, den die vergangene große Koalition 2006 eingeführt hat. Schulz schlägt in der Wahlarena eine "nationale Bildungsallianz" vor und verspricht: "Das wäre für das deutsche Bildungswesen eine Revolution." Es gab auch mal Zeiten, da hatten die Sozialdemokraten an Revolutionen andere Ansprüche.

Wer sich schon ein paar der Bürger-fragt-Politiker-Formate im Fernsehen angesehen hat, der wird im Lauf des Abends feststellen, dass sich die Themen der Wahlarena und der anderer Sendungen sehr ähneln. Die Mieten kommen fast immer vor, die Rente ebenso, die Pflege und außerdem natürlich "Diesel-Gate" - das ist dann der Punkt, wo Martin Schulz jedes Mal das schöne deutsche Wort "Musterfeststellungsklage" anbringen kann.

Es gibt auch Bürger, die ihren Unmut respektvoll kommunizieren

Im Wahlkampf 2017 schwingt ein großes Thema immer mit: Wissen "die da oben" überhaupt noch wie "die da unten" ticken? Interessieren sie sich für die Sorgen der Bürger? Die vergangenen Jahre waren geprägt von einer Entfremdung zwischen Berufspolitikern und jenen, die für sich reklamierten, "das Volk" zu sein, teilweise unter Zuhilfenahme obszöner Worte, bösartiger Gesten, unverhohlener Drohungen.

Eine Sendung wie die Wahlarena mildert diesen Eindruck, weil sie zeigt: Bürger und Politiker können schon noch miteinander reden, es gibt neben den hasserfüllten "Volksverräter"-Rufern noch haufenweise Menschen, die auch nicht mit allem einverstanden sind in diesem Land. Die aber diesen Unmut selbstbewusst, und dennoch respektvoll kommunizieren. Das ist wirklich eine feine Sache. Durch die persönliche Betroffenheit der Fragensteller verlieren sich allerdings manche Themen im Klein-Klein.

Schulz lässt sich nicht zu Schnoddrigkeiten hinreißen

Für Martin Schulz stellen Bürgerrunden im TV ein ganz anderes Problem dar. Innenpolitik ist hier fraglos wichtiger als Außenpolitik. Genau das wurde zuletzt von einigen Kritikern der SPD-Strategie als großes Problem für den Spitzenkandidaten beschrieben. Er habe sich im Wahlkampf zu sehr auf Innenpolitik festnageln lassen und hätte besser seine große europapolitische Erfahrung gegen Angela Merkel ausgespielt. "Hätte, hätte, Fahrradkette" - das hatte ein anderer Kanzlerkandidat der SPD (Peer Steinbrück) in einer umfragetechnisch ähnlich miserablen Situation gesagt.

Schulz lässt sich zu derartigen Schnoddrigkeiten nicht hinreißen und bewegt sich fügsam auf der Gefühlsebene, die ihm Formate wie die Wahlarena vorgeben. Das gelingt ihm manchmal sehr gut, wie im Gespräch mit einer Mutter von sechs Kindern, die später mal nur 600 Euro Rente beziehen wird. Sie stellt sich vor als "Köchin, Taxifahrerin, Eventmanagerin, Motivationstrainerin". Schulz versteht den Witz von der Mutter als Allround-Talent nicht gleich, verwandelt aber sein Zögern in eine Antwort, mit der er punkten kann. Die Rührung habe ihn für einen Moment überwältigt. Sie erinnere ihn nämlich an seine eigene Mutter, die fünf Kinder großgezogen habe und erst spät mit einer Mini-Rente abgespeist worden sei: "Das geht nicht." Er verspricht eine Solidarrente, die zehn Prozent über der Grundsicherung liegen soll.

Manchmal treibt er es einen Tick zu weit mit dem Versuch, Nähe herzustellen, er bekommt dann etwas Anbiederndes. Zum Beispiel, wenn er dem Chef eines Entsorgungsunternehmens versichert: "Ich war Bürgermeister, ich kenne mich aus bei der Müllabfuhr." Was vor allem deswegen unfreiwillig komisch wirkt, weil seine Tätigkeit als Bürgermeister im Wahlkampf für so ziemlich alles herhalten muss. Oder die Antwort auf die Frage einer Frau aus Malente in Schleswig-Holstein beantwortet mit einem triumphierenden: "Ich kenne Malente!"

Wo bleibt denn da der Mensch?

An anderen Stellen kommt er zwar sympathisch rüber. Aber eine echte Lösung kann er nicht anbieten. Etwa, wenn ihm eine Frau von ihrem Mann erzählt, der mit 47 krank wurde und seitdem nicht mehr in seinem alten Beruf arbeiten kann. Schulz will solchen Menschen mit Behindertenwerkstätten helfen, die er "sozialer Arbeitsmarkt" nennt. "Ich habe im eigenen Lebensweg erlebt, wie es ist, wenn man Hilfe braucht", versichert er der Frau. Die ist nicht zufrieden: "Es dreht sich immer um das, was wir müssen. Wir müssen länger arbeiten, unsere Kinder müssen in die Kita - aber wo bleibt denn da der Mensch?", fragt die Frau. "Ich kann nicht 82 Millionen Einzelschicksale bearbeiten im Land", sagt Schulz da tatsächlich einmal, versichert aber sofort: "Mir geht das Schicksal der Leute nicht irgendwo vorbei."

Er wolle das alles "mitnehmen" kündigt er am Ende der Sendung an. Und meint damit: ins Kanzleramt. "So was wie hier müssten Bundeskanzler einmal im Monat machen", sagt er am Schluss der Sendung. Von seinem Lieblingssatz müsste er sich spätestens dann verabschieden. Ein Kanzler ist schließlich schon ein bisschen mehr als der "Bürgermeister einer kleinen Stadt".

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