Großbritannien:Jenseits von Wandsworth

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Dilyn (li.), der Hund von Premierminister Boris Johnson, und sein Herrchen nach dessen Stimmabgabe bei der Kommunalwahl in London am Donnerstag. (Foto: Matt Dunham/AP)

Von Skandal zu Skandal: Bei den Lokalwahlen verlieren Boris Johnsons Konservative einige wichtige Bezirke an die Labour-Partei.

Von Michael Neudecker, London

Wandsworth ist ein Bezirk in London, es gibt ein paar durchaus Instagram-taugliche Straßen dort, aber auch ein berüchtigtes Gefängnis, in dem Boris Becker gerade seine Haftstrafe angetreten hat. Außerdem steht in der örtlichen High Street ein schönes, altenglisches Council-Gebäude mit teilweise rotem Backstein und wunderbar blühenden Blumen vor den Fenstern, drinnen regierten in den vergangenen 44 Jahren die Tories. Wandsworth im ansonsten Labour-dominierten Londoner Südwesten ist für die Konservativen, so hat es Margaret Thatcher einmal formuliert, "das Juwel in der Krone". In der Nacht von Donnerstag auf Freitag ist das Juwel weggebrochen. Die Tories haben Wandsworth in den Lokalwahlen 2022 an Labour verloren.

Der Londoner Labour-Bürgermeister Sadiq Khan war in Wandsworth zur Wahlparty, es gibt jetzt viele Fotos von ihm, wie er jubelt und freudig Menschen umarmt. Der Sieg in Wandsworth hat symbolische Bedeutung, zumal Labour ja auch in anderen langjährigen konservativen Councils in London gewann, in Westminster zum Beispiel, oder auch in Barnet.

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Ravi Govindia, der in Wandsworth in den vergangenen elf Jahren den Gemeinderat für die Konservativen leitete, sagte in einem Fernsehinterview am frühen Freitagmorgen, er habe in den vergangenen Tagen oft gehört, warum die Leute hier nicht mehr die Tories wählen wollten: Wegen der Partygate-Sache, wegen des Umgangs der Regierung mit den steigenden Lebenshaltungskosten; sogar die Geschichte von Neil Parish, dem Tory-Abgeordneten, der Pornos im Parlament schaute, "kam öfter vor", sagte Govindia. Die Regierungspartei stolperte in den vergangenen Monaten von Skandal zu Skandal, und jetzt, am Tag nach den Wahlen, ist die Frage, wie lange sie noch weiterlaufen kann.

Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan freut sich im Rathaus von Wandsworth. (Foto: Hannah McKay/Reuters)

Auch jenseits von London verloren die Konservativen viele Sitze in den Councils, bei Redaktionsschluss für diesen Text stand der Zähler in England bei einem Minus von 304 für Boris Johnsons Partei, in Großbritannien gar bei Minus 386. Johnson selbst war am Freitag in einer Vorschule in Ruislip, seinem eigenen Wahlkreis. In den Fernsehinterviews dort sagte er in etwa, was er zuletzt oft sagte: Er werde weiterhin "an den Themen arbeiten, auf die es ankommt", und es sei insbesondere in Bezug auf die Energieversorgung viel nachzuholen, was "die vorhergehenden Regierungen versäumt haben". Womit nicht ganz klar ist, wen Johnson damit meinte: Seine Partei regiert das Land seit zwölf Jahren.

Außerhalb Londons verbesserte sich die Labour-Partei kaum

Die Ergebnisse der Lokalwahlen sind für die Konservativen zwar nicht so verheerend ausgefallen, wie es einige Medien vorhergesagt hatten, aber doch schlecht genug, dass zumindest ein Trend erkennbar war: Einige Wähler entschieden sich, wenn nicht für Labour, dann doch gegen die Tories. Dass die Labour-Partei von Keir Starmer nun einerseits den größten nationalen Stimmenvorsprung auf die Konservativen seit 2012 schaffte, andererseits aber das in etwa gleiche Ergebnis wie 2018, als Starmers weitgehend unpopulärer Vorgänger Jeremy Corbyn Parteichef war, das wiederum trübte die Freude Labours, jedenfalls jenseits von Wandsworth. Außerhalb Londons verbesserte sich Labour kaum, und davon profitierten die Liberaldemokraten und die Grünen. Die Liberaldemokraten gewannen in England gar mehr neue Sitze hinzu als alle anderen Parteien.

Gewählt wurde auch in Schottland und Wales, wo die Konservativen ebenfalls viele Sitze verloren. Und in Nordirland, dort allerdings begannen die Auszählungen erst am Freitagvormittag und dauerten zu Redaktionsschluss noch an. In Nordirland wurde ein neues Regionalparlament gewählt. Am späten Samstagabend war klar, dass die republikanisch-katholische Sinn Féin erstmals in der Geschichte Nordirlands stärkste Kraft im Parlament in Belfast wird. Sinn Féin war einst der politische Arm der militanten IRA, die Partei hat sich zuletzt klar zu ihrem Hauptziel positioniert: ein vereintes Irland. Wobei ihr das ungelöste Problem mit dem Nordirland-Protokoll durchaus zugute kam.

Immerhin eine Lehre daraus hatte Johnsons Partei noch am Wahltag durchsickern lassen: Im Programm der Regierung für die neue Parlamentssaison, die am kommenden Dienstag eröffnet wird, werde ein Entwurf fehlen, den die Tories eigentlich einbringen wollten. Der Entwurf für ein Gesetz, das es den Ministern in Westminster erlaubt hätte, das Nordirland-Protokoll einfach zu ignorieren.

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