Boris Johnson:Ziemlich daneben

Boris Johnson: Extra-Tour im Wahlkampf: Boris Johnson ist in den vergangenen Tagen noch einmal verstärkt im Land unterwegs gewesen - hier in Bury bei Manchester.

Extra-Tour im Wahlkampf: Boris Johnson ist in den vergangenen Tagen noch einmal verstärkt im Land unterwegs gewesen - hier in Bury bei Manchester.

(Foto: Danny Lawson/WPA Pool/Getty Images)

Auch wenn in England, Wales und Schottland eigentlich nur über Gemeinderäte abgestimmt wird - es geht auch um die Zukunft von Boris Johnson. Denn die Briten sind nicht gerade gut zu sprechen auf seine Regierung.

Von Michael Neudecker, London

Wer würde schon bezweifeln wollen, dass Traktoren und nackte Frauen eine seltsame Kombination ergeben, insbesondere auf ihre innenpolitische Relevanz bezogen. Wobei, um jetzt keinen Fehler zu machen: Der Abgeordnete Neil Parish sprach zwar von "tractors", nach denen er auf seinem Handy "lustigerweise" gesucht habe, ehe er, im britischen Parlament sitzend, "versehentlich" auf einer Pornoseite landete, deren Inhalte er dann "ein bisschen anschaute". Aber Nachforschungen der Times und anderer britischer Medien ergaben, dass er genau genommen nach einem Mähdrescher suchte, und zwar einem Modell namens "Dominator". Ein Witz? Nein, kein Witz.

Neil Parish, 65, früherer Farmer und Tory-Abgeordneter im Unterhaus seit 2010, Leiter des Landwirtschaftsausschusses, verheiratet, zwei Kinder, ist am Wochenende zurückgetreten. Kurz vorher ist er von der Partei suspendiert worden, als bekannt geworden war, dass ihn weibliche Kolleginnen dabei beobachteten, wie er im Parlament auf seinem Mobiltelefon Pornos guckte. Das erste Mal versehentlich, wie Parish in einem Fernsehinterview im BBC-Studio sagte. Beim zweiten Mal aber war es kein Versehen, "das war mein eigentliches Verbrechen", sagte Parish, die Augen geschlossen, den Tränen nahe. "Es war also Absicht?", bohrte der Moderator nach. "Ja, Absicht", sagte Parish. Gute vier Minuten dauerte das Interview, vier quälende, überhaupt nicht lustige Fremdscham-Minuten.

Seine Gegner bezeichnen den Premier ungeniert als "Clown"

Politik ist nicht da, um lustig zu sein, das vergisst man in Großbritannien manchmal, seit Boris Johnson Premierminister ist, dessen Gegner ihn ungeniert als "Clown" bezeichnen. Boris Johnson ist kein Clown, sondern ein elitär erzogener und gebildeter Mann, der genau weiß, was er tut und was er sagt. Und: wie er wirkt. Vor allem Letzteres ist jetzt wichtig, wie er wirkt, denn darum geht es in dieser Woche mal wieder. Am Donnerstag sind Wahlen im Vereinigten Königreich, die sogenannten "Council elections". Boris Johnson steht nicht auf dem Wahlzettel, aber seine politische Zukunft.

Neil Parish und das nun für immer mit ihm verbundene "Pornogate" kommen deshalb - aus Johnsons Sicht - zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Die vergangenen Westminster-Wochen waren auch so schon so wild, dass die in solchen Sachen immer kreativen britischen Medien das Parlamentsviertel derzeit gerne "Pestminster" nennen. Partygate ist immer noch da, und dann gibt es neuerdings noch ein paar andere "-gates". Zum Beispiel Raynergate, in dem es um die ungeheuerliche Anschuldigung eines anonymen Tory-Abgeordneten via Partei-Kampfblatt Daily Mail geht, Angela Rayner, die stellvertretende Labour-Chefin, würde im Unterhaus gerne ihre Beine übereinanderschlagen, wie Sharon Stone in "Basic Instinct", nur um den ihr gegenübersitzenden Johnson zu irritieren. Es gab in den vergangenen Tagen mehrere Stellungnahmen und Wendungen in dieser irren Geschichte, vorläufig gipfelte es am Montag darin, dass Rayner Johnson einen Brief schrieb. Sie wollte wissen, was hinter der Enthüllung durch die Times stecke, dass bei einer der vielen regelwidrigen Lockdown-Partys in Downing Street der "Sexist des Jahres" gekürt worden sein soll.

Die Tory-Abgeordnete Caroline Nokes, Vorsitzende des Frauen- und Gleichberechtigungsausschusses, sagte der Zeitung gar, in ihrer Partei gebe es ein grundlegendes Problem, einen institutionellen Sexismus.

Im Beergate wiederum geht es um von der Daily Mail arg zugespitzte Anschuldigungen gegen den Labour-Chef Keir Starmer, auch er habe eine Lockdown Party gefeiert. Wobei die Beteuerungen der zuständigen Polizeibehörde, es seien dabei doch gar keine Regeln gebrochen worden, seit Tagen mit dem Tory-nahen Boulevardhammer so zurechtgebogen werden, dass sie die schönen Anti-Labour-Schlagzeilen nicht beschädigen.

Partygate, Pornogate, Sexismus? Interessiert die Wähler alles nicht, das ist seit Wochen Boris Johnsons Verteidigungsargument Nummer eins. Tatsächlich bekümmert viele Briten derzeit vor allem die Frage, wie sie die immer weiter in die Höhe rauschenden Energierechnungen bezahlen sollen. In vielen Haushalten haben sich die Kosten in den vergangenen Monaten verdreifacht.

"Die Lokalwahlen sind wie ein Wetterbericht", so formuliert es John Curtice am Telefon. Curtice ist Professor an der University of Strathclyde in Glasgow und seit vielen Jahren anerkannter Zahlenpapst im Königreich, Experte für Umfragen und politische Wettervorhersagen. An den Ergebnissen der Lokalwahlen können die großen nationalen Parteien und ihre Chefs regelmäßig ablesen, ob für sie gerade die Sonne scheint oder ob ein Sturm aufzieht. Wenn die Vorhersagen für das Wahlwetter am Donnerstag dieses Mal nicht völlig danebenliegen, sind die Aussichten für Boris Johnson wechselhaft bis trüb.

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(Foto: SZ-Grafik: saru; Quelle: YouGov)

Der Daily Telegraph, auch ein Blatt im näheren Umfeld der Tories verortet, besuchte aus exemplarischen Anschauungsgründen am Wochenende das Somerset County im Südwesten Englands, Teil der "Blue Wall", der blauen Tory-Wand, eigentlich. Die Kandidatin der Konservativen erzählte dem Blatt, dass es nicht so gut laufe im Wahlkampf: Die Menschen rissen ihre Plakate von den Wänden und verbrannten sie mitunter.

Solche Geschichten gibt es aus allen möglichen Tory-Wahlkreisen, weshalb Boris Johnson in den vergangenen Tagen noch mal viel unterwegs war in Sachen Wahlkampf. Er hat mal hier ein Stadion besucht und dort eine Baustelle, hat Hände geschüttelt, Schultern geklopft, mit Slogans geworfen. Das hat seinen Anhängern und Kollegen Mut gemacht: Es liegt in der Natur des Populisten, dass er zum Wahlkampf geboren wurde. Keir Starmer war auch unterwegs, er hat sogar ein paar Selfies mitgemacht und bei jeder Gelegenheit betont, dass er nicht in die Politik gegangen sei, um in der Opposition zu sein, "sondern, um Wahlen zu gewinnen". Aber es stimmt eben auch, was Starmer kürzlich in einem Radiointerview sagte: Er und Johnson hätten "absolut nichts gemeinsam".

Viele der Sitze, über die abgestimmt wird, sind ohnehin fest in Labour-Hand

Die Umfragen, sagt John Curtice, würden trotz Johnsons Wahlkampf-Endspurt allerdings unverändert schlechte Werte für die Tories vorhersagen. Panik aber, sagt er, erwarte er eher nicht bei den Tories. Dazu müsse man verstehen, worum konkret es am Donnerstag in England geht, nämlich um etwa 4000 Sitze in den Councils, die eine Art Mischung aus Stadtrat und Stadtverwaltung sind. Das sind nur etwa ein Drittel aller Council-Posten im Land, und die meisten jener Councils, in denen nun gewählt wird, sind ohnehin seit vielen Jahren fest in Labour-Hand. Heißt: Es ist gut möglich, dass die Tories mehrere Hundert einzelne Sitze verlieren, aber eher wenige Councils insgesamt. "Boris Johnson könnte sich kein besseres Set-up wünschen, um sich selbst nach einem schlechten Ergebnis zu verteidigen", sagt Curtice.

Ob das reicht? Wer weiß das schon. Dass die Lokalwahlen ein wichtiger Punkt von mehreren sind, über die die Tories nachdenken, das bezweifelt ja auch Curtice nicht. Gewiss sei eines, da sei er sich gerade mit Blick auf die Umfragen sicher: "Partygate wird noch lange bei uns bleiben", sagt John Curtice. Er meint das nicht so, aber es klingt wie eine Drohung.

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